Geldpolitik: alles beim Alten

Philipp Hafner, Quelle: Verlag Helmut Richardi

"Taube oder Falke?" Auf diese geldpolitisch hochrelevante Frage antwortete Christine Lagarde zu Beginn ihrer EZB-Präsidentschaft im November 2019 mit einem geschickten "Weder noch": Stattdessen wolle sie eine Eule sein - das Tier der Weisheit also. Lagardes erste weise Maßnahme im neuen Amt war zweifellos die kurz darauf im Januar 2020 auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin angestoßene Strategieüberprüfung der EZB. Denn die bis dato letzte lag zu diesem Zeitpunkt sage und schreibe 16 Jahre zurück. Die somit längst überfällige Großinventur des geldpolitischen Instrumentenkastens konnte nun Anfang Juli nach 18 Monaten abgeschlossen werden.

Im Mittelpunkt der durchaus vielschichtigen Ergebnisse - so sollen unter anderem auch die Klimaziele und die Kosten für selbstgenutzte Immobilien stärkere Berücksichtigung finden - steht das neue Inflationsziel: Die bisherige Formulierung "unter, aber nahe 2 Prozent" fällt weg, womit die EZB künftig ein symmetrisches Inflationsziel von mittelfristig 2 Prozent verfolgen wird. Das ist insofern begrüßenswert, als das kleine Wörtchen "nahe" in der Vergangenheit doch erstaunlich viel Raum für Interpretation ließ. Vor allem Lagardes Vorgänger Mario Draghi schien ihm größte Bedeutung beizumessen und erweckte dabei immer wieder den Eindruck, dass es sich um eine Art Punktziel von exakt 1,9 Prozent handle - Werte unterhalb davon wurden pauschal als unbefriedigend erachtet.

Auf der anderen Seite bereiten die europäischen Währungshüter mit dem neu formulierten Inflationsziel den Weg für die sich derzeit abzeichnenden, höheren Teuerungsraten. Denn unter diesem neuen Regime lässt sich mit Verweis auf die Symmetrie ein Überschießen der Inflation letztlich ebenso gut tolerieren wie das in den vergangenen Jahren zu beobachtende Phänomen des Unterschießens. Der EZB-Rat hat sich damit also noch mehr Argumente an die Hand gegeben, um in den kommenden Jahren eine Fortführung seiner ultraexpansiven Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen. Gerade für Sparer und Banken ist das eine bittere Pille: Das leidige Thema Negativzinsen droht endgültig zum Dauerstresstest zu werden.

Realkredite: Konditionen Stand 22. Juli 2021 Quelle: Interhyp AG

Davon abgesehen bleibt natürlich die Gretchenfrage, ob die Neuerung tatsächlich der von Lagarde als erfüllt angesehen Maxime Rechnung trägt, "einfacher und verständlicher" zu sein. Die auf der jüngsten Ratssitzung vorgestellte, an das neue Inflationsziel angepasste Forward Guidance lässt eher auf Gegenteiliges schließen: "Um sein symmetrisches Inflationsziel von 2 Prozent zu unterstützen und im Einklang mit seiner geldpolitischen Strategie, geht der EZB-Rat davon aus, dass die EZB-Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden, bis er feststellt, dass die Inflationsrate deutlich vor dem Ende seines Projektionszeitraums 2 Prozent erreicht und sie diesen Wert im weiteren Verlauf des Projektionszeitraums dauerhaft hält, und er der Auffassung ist, dass die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation hinreichend fortgeschritten ist, um mit einer sich mittelfristig bei 2 Prozent stabilisierenden Inflation vereinbar zu sein. Dies geht unter Umständen damit einher, dass die Inflation vorübergehend moderat über dem Zielwert liegt."

Hut ab, wer denkt, mit solchen Sätzen eine breite Öffentlichkeit für sich gewinnen zu können, denn mehr Fachjargon geht eigentlich nicht. Und trotzdem gelingt der EZB gleichzeitig noch immer das Kunststück, an entscheidenden Stellen Raum für Interpretationen zu lassen. Was man zum Beispiel konkret unter "vorübergehend moderat" zu verstehen hat, wollte Lagarde nicht definieren. Ob es also sechs, sieben oder zwölf aufeinanderfolgende Monate mit Teuerungsraten von über 2,5, 3,0 oder gar 3,5 Prozent sein müssen, bevor man die Reißleine zieht, bleibt dem Gutdünken des EZB-Rats überlassen. Unter dem Strich dürfte damit wohl alles so weitergehen wie bisher: Die Marktakteure werden die - hoffentlich weisen - Worte der "Eule" Christine Lagarde auf die Goldwaage legen und mühsam interpretieren müssen. ph

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