Aufsätze

2013ff. - die genossenschaftliche Finanzgruppe zwischen Wettbewerb und Überregulierung

"Indem wir die Selbsthilfe, die Bestätigung der eigenen Kraft, die Verantwortlichkeit für das eigene Geschick als Wirtschaftsprinzip proklamieren, stehen wir mitten in der Gesamtheit für die großen Aufgaben unserer Zeit." Dieses Zitat stammt von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einem der "Gründerväter" des Genossenschaftswesens, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die damalige Zeit war von tief greifenden geistigen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen gekennzeichnet.

Die von Raiffeisen entwickelten Darlehenskassenvereine reagierten auf das elementare Bedürfnis der überwiegend verarmten Landbevölkerung und organisierten erstmals den gemeinschaftlichen Bezug und Absatz von Waren. Auf seiner Idee der Förderung des Einzelnen durch das engagierte Zusammenwirken einer Gemeinschaft basiert bis heute das Selbstverständnis des genossenschaftlichen Geschäftsmodells.

Die Gegenwart ist von nicht weniger gravie renden Umbrüchen - wie seinerzeit - geprägt. Mit einem entscheidenden Unterschied: Zunehmend liegt die "Verantwortlichkeit für das eigene Geschick" nicht mehr in unseren eigenen Händen. Gewichtige exogene Faktoren beeinflussen auch das (genossenschaftliche) Bankgeschäft in einer die eigenen Gestaltungskräfte immer stärker einengenden Art und Weise.

Staatsschuldenkrise in Europa

Das politische Europa steht vor der größten Herausforderung seiner fast sechzigjährigen Geschichte: Wir bewegen uns in einem gesamtwirtschaftlichen Rahmen, der zusehends instabil wird. Immer häufiger stellt sich die Frage, ob dieser Rahmen in seiner bisherigen, vertrauten Definition angesichts der Beobachtungen neuer Phänomene nicht erweitert werden muss. Wie sieht es mit der Zinsentwicklung und vor allen Dingen mit der Geldwertstabilität aus? Wie verlässlich sind die gesetzlichen Regelungen, und können Anteilseigner, Kunden und Verantwortliche in den Banken darauf auch noch in Zukunft bauen?

Wer reguliert eigentlich was und wen? Das sind zum Teil neue Fragen, aber sie sind wichtig, und von ihren Antworten hängen Wohl und Wehe auch unserer Branche ab.

Aber über allem steht - das wird in Teilen der Politik gelegentlich verdrängt - die europäische Staatsschuldenkrise. Eine Staatsschuldenkrise, die das wirtschaftliche Umfeld, die Rahmenbedingungen und die Geschäftsentwicklungen der Banken in einem bisher nicht gekannten Maße beeinflusst. Für die Zukunft wird es entscheidend da rauf ankommen, ob es der Politik gelingen wird, die richtigen Lösungsansätze für die Bewältigung dieser Krise umzusetzen. Neben den zwingend notwendigen Sparmaßnahmen bedarf es eines entschlossenen Schrittes hin zu einer stärkeren Koordinierung von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Euro-Mitgliedsländer mit dem Ziel, die strukturellen Ungleichgewichte im gemeinsamen Währungsraum - Schritt für Schritt - auszugleichen, mindestens aber einzuebnen. Eine vertiefte politische Kohärenz ist eine zwingende Voraussetzung für die Stabilisierung des Wirtschaftsraumes und Finanzsystems. Sie wird auch für die genossenschaftliche Finanzgruppe von Bedeutung sein.

Dabei ist die überbordende Staatsverschuldung keineswegs allein ein europäisches Thema. Die Verschuldung beispielsweise Japans oder der USA gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist ja deutlich höher. Nur gelingt es vor allem den USA auffallend besser, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Kapitalmärkte und der Öffentlichkeit auf immer wieder neue - echte oder vermeintliche - "bad news" aus "old europe" zu lenken. Auch hier zeigt sich Europa derzeit erkennbar nicht in der Lage, geschlossener und entschiedener zu agieren.

Überbordende Regulatorik

Neben der Staatsschuldenkrise Europas beeinflusst insbesondere die staatliche Regulatorik das Bankgeschäft - und zwar in einem Ausmaß, das die Grenzen des Zumutbaren schon längst überschritten hat: Basel III, CRD IV, CRR I, MiFID II, MaSan und AnsFuG sind nur einige der prominentesten Abkürzungen, welche die neue Regulierungswirklichkeit kennzeichnen. Hinzu kommen die Bankenunion, inklusive einheitlicher Aufsichtsmechanismus, Krisenmanagementrichtlinie und gemeinsame europäische Einlagensicherung sowie Stress tests und die Bankenabgabe. Die Branche wird schier von einer Regulierungswelle überrollt, die in den Steuerungsbereichen der Banken zu einer erheblichen, bald nicht mehr zu bewältigenden Ressourcenbelastung und zu einer hohen Bindung von Personalkapazitäten führt.

Die staatliche Regulatorik, oft ausgedacht und verordnet von Technokraten aus Basel, Brüssel und London mit bis weilen auffälliger Distanz zur Lebenswirklichkeit, schneidet der Bankenbranche zunehmend die Luft zum Atmen ab. Für das originäre, klassische Bankgeschäft bleibt immer weniger Raum. Damit berührt die Regulatorik letztlich auch die Interessen der Eigentümer und Kunden. Aufsichts orientierung rangiert dann bald vor Kundenorientierung.

Auch in diesem Feld muss Europa aufpassen, sich nicht durch hektischen Aktionismus vom Rest der Welt abzukoppeln. Dass die USA mittlerweile offen darüber nachdenkt, Basel III eventuell gar nicht oder nur abgeschwächt einzuführen, darf als Beleg für diese Sorge gewertet werden. Während die Regulatoren in Europa das Augenmaß zu verlieren scheinen, wartet man andernorts offenkundig ab. Das sollte zumindest ein gebotener Anlass sein, sich mit den Argumenten zu befassen. Aber die Absicht besteht wohl nicht.

Genossenschaftliches Grundverständnis und Wettbewerb

Die genossenschaftliche Finanzgruppe wird getragen von 17 Millionen Mitgliedern oder Eigentümern. Das sind übrigens auch 17 Millionen Wähler. Für sie tragen die Kreditgenossenschaften Mitverantwortung nicht allein im Tagesgeschäft, sondern gerade auch mit Blick auf die weitere Entwicklung der Gruppe. Diese Verantwortung verleiht den Kreditgenossenschaften aber auch ein erhebliches politisches Gewicht, das sie künftig viel stärker und selbstbewusster in die Waagschale legen müssen. Das können die Verbände, die hier insgesamt eine ganz hervorragende Arbeit leisten, aber nicht allein. Das müssen alle gemeinsam tun.

Die genossenschaftliche Finanzgruppe muss sich stärker zu Wort melden, stärker deutlich machen, dass eine gesunde Bankenlandschaft in Deutschland wohl nur dann dauerhaft gestaltbar ist, wenn sich das genossenschaftliche Grundverständnis über das kundenbezogene Bankgeschäft erlebbar entfalten kann. Man kann sich mit guten Argumenten gegen die faktische Gleichbehandlung der Banken durch eine überbordende, vor allem aber eine weithin undifferenzierte Regulierung zur Wehr setzen. Die genossenschaftliche Bankengruppe bedarf eines solchen Ausmaßes an Regulierung - wie es gegenwärtig erkennbar wird - nicht.

Abgesehen von den organisatorischen und technischen Herausforderungen, die mit den neuen Regelungen einhergehen, ist offenkundig gegenwärtig niemand in der Lage, die kumulierten Auswirkungen aller Einzelmaßnahmen und deren Kosten zu überschauen. Das birgt durchaus Gefahren. Und ob mit den neuen regulatorischen Maßnahmen das angestrebte Ziel einer größeren Sicherheit erreicht werden kann, darf schon heute in berechtigte Zweifel gestellt werden. Die Trennungslinie zwischen Sinn und Unsinn jedenfalls ist vielfach nicht mehr klar erkennbar.

Der Betrachter reibt sich beim Blick auf die "strategischen Neupositionierungen" mancher Wettbewerber, die sich in der Vergangenheit zum Teil gänzlich anders ausgerichtet hatten, verwundert die Augen. Diese Wettbewerber drängen nun jedenfalls in die angestammten, risikoärmeren Geschäftsfelder der genossenschaftlichen Finanzgruppe, jener Gruppe, die sich selbst nie vom Kundengeschäft entfernt hat. Insgesamt ist es natürlich begrüßenswert, wenn wieder verstanden wird, dass Banking zuallererst eine dienende Funktion hat - für die Menschen und für die Realwirtschaft, und nicht umgekehrt. Als Bankengruppe, die dies nie vergessen hat, müssen die Kreditgenossenschaften aber ihre Märkte - gerade auch in Zeiten offenkundiger Wettbewerbsverzerrungen - noch stärker durch eine überzeugende Arbeit für ihre Kunden verteidigen.

Strategische Ausrichtung der genossenschaftlichen Finanzgruppe

Die genossenschaftliche Finanzgruppe erscheint heute so modern wie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr. Das liegt nicht daran, dass sie in der Vergangenheit zu wenig modern gewesen wäre. Sie ist nur nicht jedem modernistischen Trend im Banking hinterhergelaufen - zum Glück! Ungeachtet dessen muss sie sich den künftigen, sich wandelnden Herausforderungen stellen. Denn die Volksbanken und Raiffeisenbanken sind ihrer Region, ihren Mitgliedern und ihren Kunden langfristig verpflichtet. Sie können nicht einfach weglaufen und in anderen Regionen dieser Welt ihre Geschäftsmöglichkeiten suchen.

Darum zählt es gerade heute zu den wichtigen Aufgaben eines Verbundes wie der genossenschaftlichen Finanzgruppe, Wege in die Zukunft des Banking aufzuzeigen. Dazu zählt die fortentwickelte Verzahnung von Kundenbetreuung via technischer Hilfsmittel mit der persönlichen Bindung vor Ort ebenso wie der Ausbau neuer Kundenbindungssysteme oder die Weiterentwicklung bewährter Produkte und Dienstleistungen. Ohne gezielte Maßnahmen und Aktivitäten wird sich die Zahl der Kundenverbindungen in den nächsten Jahren kaum nennenswert erhöhen.

Im Gegenteil: Spätestens in zehn Jahren wird sie beginnen, sich zu verringern. Dafür spricht schlicht die Demografie, denn die Marktanteile der Finanzgruppe sind bei den älteren Jahrgängen deutlich größer als bei den jüngeren. Zwar stellen die älteren Jahrgänge eine hoch attraktive Kundengruppe dar, aber sie wächst sich leider mit den Jahren aus. Und bei der Jugend und der jungen Generation ist wohl schon mancher Anschluss verpasst worden - jedenfalls in der Gesamtbetrachtung.

Verändertes Kundenverhalten

Zudem ist das veränderte Kundenverhalten zu berücksichtigen: Internet und Social Media bringen es mit sich, dass Kunden immer bessere Informationen über Bankprodukte unddienstleistungen erhalten und diese miteinander vergleichen. Dabei nimmt das weltweite Netz eine herausragende Rolle ein, die bisweilen unterschätzt wird. Umso wichtiger sind daher die Anstrengungen der gesamten genossenschaftlichen Finanzgruppe, die unter der Federführung des BVR bereits im Sommer 2011 ein verbundübergreifendes Internetprojekt gestartet hat, um eine homogene Qualität in den Onlineauftritten der Primärbanken und der Verbundunternehmen sicherzustellen und den bestehenden Allfinanz-Ansatz der Kreditgenossenschaften auch in die Onlinewelt zu übertragen. 2013 erfolgen die Umsetzung und die bundesweite Implementierung der neuen Internetstrategie. In den kommenden Jahren bedarf es in der Finanzgruppe einer kontinuierlichen Weiterentwicklung auf diesem Sektor.

Mit dem Internet allein schaffen die Kreditgenossenschaften natürlich noch keine stärkere Nähe zu ihren Kunden. An dieser Stelle ist vielleicht auch mit Blick auf frühere Trends eines kritisch zu hinterfragen: Haben die Banken nicht selbst manches dafür getan, der Entfremdung zu ihren Kunden einen freien Weg zu öffnen? Der Siegeszug der Geldautomaten und Kontoauszugsdrucker - in vielerlei Hinsicht natürlich nützliche Geräte - begann bereits in den achtziger Jahren. Die Selbstbedienungs-Zonen wurden im Laufe der Jahre immer größer, die Öffnungszeiten hingegen immer kürzer.

Wenn der Kunde seltener in die Zweigstelle kommt, wird ei ne aktive Kundenberatung naturgemäß schwieriger. Dabei hat die genossenschaftliche Finanzgruppe mit ihren über 13 000 Filialen beste Voraussetzungen für eine spürbare Kundennähe. Aber es kommt natürlich nicht nur auf die räumliche Nähe, es kommt vielmehr auf die vom Kunden gefühlte und erlebbare Nähe an.

Langfristige Kundenbindung durch Emotionen

Die Überlegungen müssen dahin gehen, wie die Kunden wieder zurückgeholt beziehungsweise lebendige Bindungen geschaffen werden können. Modische Inneneinrichtungen, "Shopinshop-Konzepte" oder Filialcafés - dies alles sind gute Ansätze. Allein reichen sie aber nicht aus. In erster Linie kommt es auf die Kundenbetreuer an: auf die Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vertrieb, auf ihre gute Kenntnis der angebotenen Produkte und Dienstleistungen, auf ihre Freude an der Begegnung mit Kunden und auf die Übertragung dieser Freude auch ins Backoffice und in das gesamte Unternehmen.

Vertrieb ist kein technisch-organisatorischer Vorgang. Im Vertrieb begegnen sich Menschen. Empathie spielt dabei eine bedeutende Rolle: die Bereitschaft zuzuhören und sich in die Situation des anderen, des Kunden hineinzuversetzen. Die entscheidende Aufgabe besteht darin, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vertrieb anzuregen, sich in ihren Fähigkeiten weiter zu entwickeln. Langfristige Kundenbindung erreicht man nur über emotionale Bindung. Vielleicht sollten Vorstände gerade auch im Hinblick auf Vertriebsaktivitäten noch häufiger Vorbild sein.

Fester Schulterschluss als entscheidendes Asset

Eine bedrückende Entwicklung darf man in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen: Der Gesetzgeber hat mit der deutlichen Verschärfung der Beraterhaftung viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch in der genossenschaftlichen Finanzgruppe zutiefst verunsichert. Ein völlig überzogener Vorgang, den massiv zu rügen sich die Finanzgruppe - und zwar im Sinne ihrer Kunden - noch viel mehr hätten trauen sollen.

Im Übrigen verstehen die meisten Kunden die umfassenden Dokumentationspflichten, die letztlich ja immer auch Ausdruck von Misstrauen sind, ohnehin nicht. Der Aufbau einer vertrauens vollen Beziehung zwischen Kunde und Berater wird dadurch - gelinde gesagt - zumindest nicht erleichtert. Die Verbesserung von Beratungsprozessen ist daher eine wichtige Aufgabe für die Finanzgruppe, um den Beratern die erforderliche Rechtssicherheit an die Hand zu geben.

Ohne eine überzeugende, berechenbare und glaubwürdige Ausrichtung auf die Kunden werden in den kommenden Jahren bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen nur sehr schwer Marktanteile zu gewinnen sein. Und aus den bestehenden, nicht selten anonymen Kontoverbindungen werden nicht von selbst persönliche, vertrauensvolle Kundenbeziehungen entstehen. Alle Verantwortlichen der genossenschaftlichen Finanzgruppe sind daher gehalten, die gemeinsamen Vertriebsprojekte in der Gruppe zu unterstützen und die zum Teil mit erheblichem Ressourceneinsatz erarbeiteten Ergebnisse anschließend auch umzusetzen.

Der feste Schulterschluss, die beispielhafte Geschlossenheit und die lebendige Zusammenarbeit der genossenschaftlichen Finanzgruppe werden auch in Zukunft das wesentliche Differenzierungsmerkmal, das entscheidende "Asset" dafür sein, weitere Erfolge im Markt zu erreichen und letztlich den Kunden zu dienen. Auch viele Kunden wissen inzwischen: "Die" Banken gibt es nicht.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X