Aufsätze

Kapitalmarkt und Qualifizierung - das Beispiel Aufsichtsräte

Wer kontrolliert die großen Unternehmen? Wer wacht darüber, dass sie sich einerseits ethisch den verschiedenen Gruppen gegenüber verhalten, die von ihren Entscheidungen betroffen sind? Und wer stellt sicher, dass diese Unternehmen effizient geführt werden, Gewinne erwirtschaften, gleichzeitig aber auch zukunftsfähig bleiben oder gemacht werden, also in ihrem langfristigen Bestand nicht gefährdet werden?

Viele der großen Unternehmen sowohl hierzulande als auch in anderen Staaten wie beispielsweise den USA, Kanada oder Australien sind börsennotierte Aktiengesellschaften. Bei diesen Gesellschaften muss es nicht mehr nur der Gründer des Unternehmens und seine Familie - also ein Einziger oder eine sehr kleine Gruppe - sein, sondern eine sehr große Vielzahl von Menschen, die hier Verantwortung übernehmen und man sollte betonen, übernehmen müssen. Prinzipiell erlauben Aktienmärkte die Streuung des Eigenkapitals von börsennotierten Aktiengesellschaften in die Hände von vielen Kapitalgebern mit teilweise auch sehr geringen Anteilssummen. Das hat zur Herausbildung der sogenannten "Publikumsgesellschaften" geführt, also Aktiengesellschaften, deren Kapital von Hunderttausenden von Anlegern gehalten wird.

Wissen als Basis von Kontrollfunktionen

Die Kontrolle dieser Unternehmen liegt also in den Händen breiter Teile der Bevölkerung. Das ist kongruent mit demokratischen Prinzipien. Die verantwortungsvolle Teilhabe an der Entscheidungsfindung erfordert aber sowohl im politischen als auch im ökonomischen Raum ein zunehmend höheres Maß an Verständniswissen, also Wissen, das erforderlich ist, um Zusammenhänge verstehen und durchschauen zu können. Ohne solches Wissen auf verhältnismäßig fortgeschrittenem Niveau kann keine der eingangs genannten Kontrollfunktionen ausgefüllt werden.

Nun werden diese Zusammenhänge, die verstanden werden müssen, im Zeitablauf nicht simpler. Ganz im Gegenteil, an vielen Stellen der Ökonomien, sei es im Steuerrecht oder in der Bankenregulierung, im Verbraucher- oder Datenschutz, in der Notenbank- wie der Energiepolitik steigt der Zeitaufwand einer vollständigen Analyse der Probleme und ihrer Zusammenhänge. Bei der Kontrolle von Großunternehmen stellen sich eine Vielzahl von Problemen bei der Durchdringung der entscheidungsrelevanten Zusammenhänge. Hier ergeben sich in allen betriebswirtschaftlichen Funktionsbereichen gestiegene Anforderungen bei der Analyse möglicher Konsequenzen von Entscheidungen.

All dies sind Ergebnisse einer sehr langfristigen Entwicklung innerhalb der Gesellschaften: der zunehmenden Arbeitsteilung und Spezialisierung. Und damit geht die "Verwissenschaftlichung" der Welt einher, also die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Ergebnissen von Forschung und Entwicklung. Die Wissensbasierung von unternehmerischem Handeln hat ganz praktische Konsequenzen für alle. Das einmal erworbene Wissen, einschließlich des Verständniswissens muss laufend an die Weiterentwicklung der Ergebnisse aus Forschung und Entwicklung angepasst werden.

Selbstgesteuertes Lernen

Diese schlichte Einsicht ist alles andere als neu, und verantwortliche Entscheidungsträger tun dies ohnehin permanent, indem sie sich selbstständig und kontinuierlich einer Vielzahl von unterschiedlichen Wegen des selbstgesteuerten Lernens bedienen: Artikel in Fachzeitschriften, Bücher, aber auch durch Gespräche mit Beratern und hoch spezialisierten Mitarbeitern. Kein Zweifel: Selbstgesteuertes Lernen hat viele Vorteile und ist eine der Schlüsselqualifikationen, die ein Studium vermitteln muss.

Durch die Entwicklung des Internets und die schier endlose Zahl an hochwertigen Dokumenten und Ressourcen über jedes erdenkliche Thema hat diese Form der Weiterbildung enorm an Effektivität gewonnen. Im Zusammenhang mit den Kompetenzen und Qualifikationen, die in Gremien wie Aufsichtsräten kontinuierlich der Weiterentwicklung unterliegen müssen, ist diese Form des Lernens zwar notwendig, sie ist aber nicht hinreichend. Warum ist das so und welche Art des Lernens kann diese Lücke füllen?

Selbstgesteuertes Lernen kann immer dann erfolgreich sein, wenn Lerner sehr präzise wissen, welche Elemente des Wissens ihnen fehlen. Wenn zum Beispiel der Englischwortschatz noch zu gering ist, hilft die Lektüre englischer Literatur oder der beliebte Zettelkasten mit neuen Vokabeln. Wenn ein Paragraf in einem Gesetzestext in seiner Bedeutung unklar erscheint, kann der Gesetzeskommentar weiterhelfen. Bei der Aneignung von Verständniswissen, das Mitglieder von Aufsichtsräten für die verantwortungsvolle Ausübung ihrer Aufgaben benötigen, geht es nicht (nur) um solches Faktenwissen. Vielmehr stehen hier zwei Problembereiche im Vordergrund, die absolut zentral für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens und sein langfristiges Überleben am Markt sind, die aber Lerner bei rein selbstgesteuertem Lernen vor große Probleme stellen müssen: Strategisches Management und Risikomanagement.

Von der Kontrolle bis zur Beratung

In der wissenschaftlichen Literatur werden seit geraumer Zeit über die Konsequenzen der veränderten Rolle der Aufsichtsräte von vormals reinen Kontrollgremien hin zu ihrer beratenden Rolle insbesondere bei der Ausrichtung der Unternehmensstrategie diskutiert. Siehe hierzu zum Beispiel die Arbeiten von Siciliano [2005], Ruigrok, et al. [2006], Pugliese [2009] und Weitzner [2011]. Hierbei geht es aber nicht um juristisches Fachwissen und rechtliche Risiken. Aus der Rechtswissenschaft kann man zwar lernen, welche Maßnahmen zum Beispiel im Falle eines Konkurses rechtlich zwingend sind. Diese Disziplin hilft gleichwohl nur wenig, um wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen, damit dieser Fall gar nicht erst entsteht.

Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre hat sich das Lehr- und Forschungsfach Strategisches Management herausgebildet. Dieses Fachgebiet hat zum Beispiel Einsichten aus der Volkswirtschaftslehre (hierbei insbesondere die Mikroökonomie) durch die Entwicklung von Analysewerkzeugen für die Unternehmensentwicklung nutzbar gemacht. Bei der konkreten Entwicklung oder Weiterentwicklung einer Unternehmensstrategie ist die Beherrschung dieser Instrumente zwar wichtig. Nicht weniger wichtig ist aber die Wahrnehmung von Trends, Innovationen und Veränderungen im Umfeld des Unternehmens, die den Erfolg der bestehenden Unternehmensstrategie bedrohen können.

Hier stößt selbstgesteuertes Lernen häufig an seine Grenzen. Aus der Psychologie ist das Problem der selektiven Wahrnehmung (Vermeidung der kognitiven Dissonanz) möglichst all jener Informationen und Tatsachen bekannt, die bestehende Überzeugungen, Urteile und Entscheidungen bestätigen und konträre nach Möglichkeit ausblenden. Bei der Strategiebildung - will sie denn die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sichern - kommt es aber darauf an, Veränderungen im unternehmerischen Umfeld gerade dann wahrzunehmen, wenn sie im Gegensatz zu diesen bisherigen Ansichten und Einsichten stehen. Dies ist ein thematisches Beispiel dafür, welchen Beitrag Executive Education für Aufsichtsratsmitglieder leisten kann.

Executive Education unterscheidet sich grundlegend von dem, was sich mit dem Stichwort "Lernen" verbinden, wenn man an die Erfahrungen aus Schule und Hochschule denkt. Executive Education besteht nicht aus Vorlesungen, bei denen Dozenten dozieren und Lerner zuhören und mitschreiben. Die Rolle der Dozenten ist eine gänzlich andere. Dozenten in der Executive Education moderieren die Diskussion, sie strukturieren sie und halten sie auf Kurs, aber sie dominieren sie nicht. Die Teilnehmer, die Peer-Group-Mitglieder, erarbeiten die Ergebnisse der Diskussion, sie liefern den Input.

"Executive Education"

Von den vielen verschiedenen Techniken, die sich für solches Peer-Group-Learning eignen, sei hier nur eine erwähnt, die besonderes Potenzial für Executive Education für Aufsichtsratsmitglieder besitzt, denn es sind oft gerade diese Personen, die über einen reichen Erfahrungsschatz verfügen. Es sind die bestehenden Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis, die den Input für denjenigen Ansatz für die Executive Education bilden, den Daudelin [1996] in ihrem Artikel: "Learning from Experience through Reflection" aufzeigt. Sie schreibt (Seite 36):

"Recent studies have shown that the day-to-day experiences of managers as they confront challenges and problems on the job are rich sources of learning-perhaps more appropriate 'class rooms' than the traditional venues described above."

Damit wird Executive Education zur Unterstützung einer der zentralen Funktionen von Aufsichtsräten konkret vorstellbar. Die Dozenten rücken neue Trends, Innovationen und Veränderungen im unternehmerischen Umfeld in den Fokus der Diskussion und erläutern gelegentlich Werkzeuge aus der Strategielehre und aktuelle Diskussionen um die "richtige" Governance, die hilfreich sein können, die Konsequenzen dieser Veränderungen auf Unternehmen zu analysieren und abzuschätzen. Die teilnehmenden Aufsichtsräte geben aus ihrer Sicht eine erste Einschätzung der Bedeutung dieser Veränderungen für ihr Unternehmen und erläutern, welche real existierenden Beschränkungen eine Veränderung der Strategie beachten muss, die optimal auf diese Herausforderungen antworten will.

Zusammenführung von fragmentiertem Wissen

Executive Education ist aber nur eine Möglichkeit, die derzeitige Qualifikation von Aufsichtsräten zu verbessern. Die erwähnte zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung hat noch eine weitere Konsequenz. Sie bedeutet auf der Ebene der einzelnen Personen eine fortschreitende Fragmentierung des Verständniswissens. Das Spezialistentum fordert nicht nur in der Wissenschaft seinen Tribut, es macht auch vor der betrieblichen Praxis nicht halt.

Wer zum Beispiel nachgewiesenermaßen sehr kompetent in allen rechtlichen Fragen ist, die das Unternehmen betreffen, wird sicher in den seltensten Fällen ähnlich kompetent in Bezug auf die IT-Architektur und die sich daraus möglicherweise ergebenden operationellen Risiken sein können. Prinzipiell kann durch die Bildung von Gremien, also Kontrollgremien wie Aufsichtsräte, das erforderliche Verständniswissen wieder zusammengeführt werden: Was der Einzelne nicht vollständig durchschauen kann, können Gremien durchaus verstehen. Genau diese Zusammenführung von fragmentiertem Wissen sehen van Ees, et al. [2009, Seite 308] als eine der zentralen Aufgaben von Aufsichtsräten an:

"We argue that boards, in reality, may be less concerned with solving conflicts of interests and rather more concerned with solving problems of coordination and managing the complexity and uncertainty associated with strategic decision making (... ) As such, a board's contribution to firm performance is expected to derive mainly from its involvement in enabling cooperation, as well as collecting and using relevant and timely knowledge, rather than from the reduction of agency costs."

Nutzung von heterogenen Erfahrungen in Aufsichtsräten

Umgekehrt bedeutet dies, dass Aufsichtsgremien, die nicht fragmentiertes Wissen zusammen führen, sondern aus Mitgliedern bestehen, die über sehr ähnliche Erfahrungshintergründe verfügen, diese Funktion nur sehr eingeschränkt ausführen können. Die Verbindung zwischen homogenem Gruppendenken in Aufsichtsräten und ihrer mangelhaften Fähigkeit, bestehende Informationen und Warnsignale frühzeitig zu nutzen, zeigen Rost und Osterloh [2008] in ihrer Arbeit auf. In der Vergangenheit war solches gruppenkonformes Entscheidungsverhalten mehrfach eine entscheidende Entstehungsbedingung für das Auftreten sowohl von Unternehmens- als auch Wirtschaftskrisen großen Ausmaßes (internationale Schuldenkrise Mitte der achtziger Jahre, spekulative Blasen, Dot-Com-Krise, Subprime-Krise). Durch die Einbeziehung konträrer Sichtweisen und der Nutzung von heterogenen Erfahrungen in Aufsichtsräten besteht jedoch die Chance, solche Risiken zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren, die die Existenz des Unternehmens gefährden können.

Eine fortschreitende Fragmentierung des Verständniswissens erfordert spiegelbildlich eine fortschreitende Heterogenität der Kompetenzen, die in Aufsichtsräten wieder zusammen geführt werden müssen. In diesem Zusammenhang sind Ergebnisse einer Umfrage relevant, die im Frühjahr 2009 das Meinungsbild unter Aufsichtsratsmitgliedern der größten deutschen GmbHs und börsennotierten AGs erfragt hatte, und an der 315 Aufsichtsratsmitglieder (hiervon 139 von der Kapitalgeberseite) teilgenommen hatten. Auf die Frage nach einer stärkeren Heterogenität der Erfahrungshintergründe der Aufsichtsratsmitglieder haben sich 84,2 Prozent der antwortenden Aufsichtsratsmitglieder von der Kapitalseite dies gewünscht (siehe Rudolph [2009, Seite 37]). Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass 80,2 Prozent der Mitglieder ihre Zustimmung zur folgenden Aussage dokumentiert haben:

"Meiner Erfahrung nach sind kontroverse Diskussionen über unterschiedliche Sichtweisen im Aufsichtsrat sehr erwünscht und haben schon an vielen Stellen die Entscheidungsfindung signifikant verbessert."

Die Verbesserung der Qualifizierung der Aufsichtsräte kann also durch zwei komplementäre Wege erreicht werden: durch Executive Education zu speziellen Themenkomplexen, die für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens entscheidend sind und durch eine Erhöhung der Heterogenität der Erfahrungshintergründe und Kompetenzen des Aufsichtsratsteams. Beides sind gangbare und sich unterstützende Wege, die einerseits den bestehenden Erfahrungsschatz der Aufsichtsratsmitglieder nutzen, gleichzeitig aber sicherstellen, dass die ständig steigenden Qualifizierungsanforderungen an diese Aufsichtsgremien erfüllt werden können.

Literatur

Daudelin, Marilyn Wood, [1996], "Learning from Experience through Reflection, " Organizational Dynamics, Jahrgang 24, Band 3, Winter, S. 36-48, 1996. Pugliese, Amedeo, Bezemer, Pieter-Jan, Zattoni, Alessandro, Huse, Morten, van den Bosch, Frans A. J., und Volberda, Henk W., [2009], "Boards of Directors' Contribution to Strategy: A Literature Review and Research Agenda", Corporate Governance: An International Review, Jahrgang 17, Band 3, S. 292-306, 2009.

Rost, Katja und Osterloh, Margit, [2008], "You Pay a Fee for Strong Beliefs: Homogeneity as a Driver of Corporate Governance Failure", Center for Research in Economics, Management and the Arts, Basel, Schweiz, Working Paper No. 2008 - 28, 2008.

Rudolph, Dirk W., [2009], "Frauen in Aufsichtsräten - Befund, Ursachen und Konsequenzen des unterproportionalen Anteils der Frauen in deutschen Aufsichtsräten und mögliche Veränderungsoptionen", Diskussionspapier der Frankfurt School of Finance & Management, Oktober 2009.

Ruigrok, Winfried, Peck, Simon I. und Keller, Hansueli, [2006], "Board Characteristics and Involvement in Strategic Decision Making: Evidence from Swiss Companies", Journal of Management Studies, Jahrgang 43, Band 5, S. 1201-1226, Juli, 2006.

Siciliano, Julie I., [2005], "Board Involvement in Strategy and Organisational Performance", Journal of General Management, Jahrgang 30, Band 4, S.1-10, 2005.

van Ees, Hans, Gabrielsson, Jonas und Huse, Morten, [2009], "Toward a Behavioral Theory of Boards and Corporate Governance", Corporate Governance: An International Review, Jahrgang 17, Band 3, S. 307-319, 2009.

Weitzner, David und Peridis, Theo, [2011], "Corporate Governance as Part of the Strategic Process: Rethinking the Role of the Board", Journal of Business Ethics, Band 102, S. 33-42, 2011.

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