Leitartikel

Dokumentation und ein bisschen - Wegweiser

Manchmal sind es Äußerlichkeiten, die vom Wandel der Zeiten und vom
Aufstieg von Institutionen zeugen. Nimmt man in diesem Sinne den
Jahresbericht 2005 der Europäischen Zentralbank zur Hand, so hat
dessen nunmehr achte Ausgabe gegenüber dem ersten echten Vorläufer aus
dem Jahre 1998 (vorher hatte schon das Europäische Währungsinstitut
berichtet) eindeutig an Gewicht gewonnen. Das dokumentiert sich
beileibe nicht nur an dem von 178 auf 244 Seiten deutlich
angewachsenen Umfang, sondern auch an scheinbar so nebensächlichen
Dingen wie der Qualität des Papiers, der Einbindung von Fotos, neuen
grafischen Elementen sowie nicht zuletzt der Auflockerung der
einzelnen Kapitel durch Abbildung ausgewählter Werke aus der
EZB-Kunstsammlung. Solche Gestaltungsmerkmale können freilich immer
nur der Anreiz zu einer gebührenden Beachtung durch die Adressaten in
der Finanzwelt und der interessierten Öffentlichkeit sein. Letztlich
gemessen wird der Nutzwert solcher Rechenschaftsberichte an Kriterien
wie dem Informationsgehalt über abgeschlossene und laufende Projekte
sowie die frühzeitige Einstimmung auf kommende Entwicklungen im Umfeld
der Notenbanken. Naturgemäß kann dabei in einer gedruckten
Ex-Post-Betrachtung mit entsprechend langen Produktionszeiten nicht
das Tagesgeschehen an den weltweiten Finanzmärkten im Mittelpunkt
stehen. Was der Leser von einem sorgfältig recherchierten und in
seiner Themenauswahl wie Gewichtung wohl abgestimmten Jahresbericht
aber erwarten darf, ist die Vermittlung eines Grundverständnisses für
die zentralen Arbeitsfelder der Notenbank.
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Mit dem Wechsel im Präsidentenamt von Wim Duisenberg zu Jean-Claude
Trichet hat sich der im Frühjahr 2004 erschienene Jahresbericht 2003
nicht nur in der Aufmachung geändert, sondern er ist auch in der
inhaltlichen Gliederung gestrafft worden. Kapitel 1 bleibt
traditionell der Wirtschaftsentwicklung und Geldpolitik vorbehalten
und liefert nach wie vor eine ausführliche Erläuterung der geld- und
währungspolitischen Entscheidungen der abgelaufenen Periode. Es folgen
dann Betrachtungen zu den Zentralbankgeschäften undaktivitäten
(Kapitel 2), zu Finanzmarktstabilität und Finanzmarktintegration
(Kapitel 3) sowie zu den Europäischen und internationalen Beziehungen
(Kapitel 4). Und gut ein Drittel des aktuellen Jahresberichtes bleiben
schließlich der Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und
dem Parlament (Kapitel 5), der Öffentlichkeitsarbeit (Kapitel 6), dem
Institutionellen Rahmen, der Organisation sowie dem eigentlichen
Jahresabschluss und der Konsolidierten Bilanz des Eurosystems
vorbehalten (Kapitel 7). Dass seit nunmehr drei Jahren an dieser
Abfolge festgehalten wurde, erleichtert die Arbeit mit dem Bericht.
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Sofern es besondere Entwicklungen darzustellen gilt, werden dafür
eigene Kapitel eingeschoben. In den vorangegangenen beiden Jahren war
dies etwa bei der Erweiterung der Europäischen Union der Fall.
Inzwischen gilt dieser Integrationsschritt offenbar als vollzogen. Und
folglich wird diesmal über den Stand der Beziehungen und
Vereinbarungen mit den Beitrittsländern Bulgarien und Rumänien ebenso
im Rahmen der Europäischen und internationalen Beziehungen berichtet
wie über den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und dem
Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien. An
diesem Beispiel lässt sich im Übrigen anschaulich der Nutzwert des
EZB-Jahresberichtes verdeutlichen. Er bietet eine klare Dokumentation
zum Stand und zum Verlauf der Beitrittsverhandlungen beziehungsweise
eine gute Hinführung zu der jüngsten Stellungnahme der EU-Kommission
von Mitte Mai 2006. In deren Fortschrittsbericht wird bekanntlich der
festgesetzte Beitrittstermin 2007 für Bulgarien und Rumänien bei
weiteren Reformanstrengungen für möglich gehalten, eine endgültige
Festlegung will die Kommission aber erst im Herbst dieses Jahres
treffen. Auf diesen anstehenden Zwischenbescheid im Frühjahr 2006
weist der EZB-Bericht schon hin. Und er abstrahiert dabei durch eine
rückschauende und auch durchaus sanft bewertende Betrachtung von den
vielen Zwischentönen der Tagesaktualität, die durch unterschiedliche
Kommentierung der Ereignisse durch die verschiedenen Beteiligten und
Interessengruppen beim Betrachter oft nur Verwirrung schaffen.
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Die Konzentration auf das Wesentliche liefert auch die Betrachtung der
Geldpolitik - das Kernstück des Berichtes: Wer sich lediglich einen
raschen Überblick über die geldpolitischen Beschlüsse des abgelaufenen
Jahres verschaffen will, findet das entsprechende Szenario knapp
zusammengefasst. Im jüngsten Jahresbericht beispielsweise reichen vier
Seiten, um die "wachsende Besorgnis über die Aufwärtsrisiken für die
Preisstabilität" zu erläutern, die dem EZB-Rat am 1. Dezember 2005 zu
der ersten Leitzinserhöhung in der Amtszeit Trichets Anlass gab. Man
kann aber auch wesentlich tiefer in die Zusammenhänge einsteigen: Wie
vielschichtig die realen und monetären Einflussgrößen sind, die
ständig beobachtet werden und schließlich in eine Zinsentscheidung
einmünden, erfährt der geneigte Leser in der ausführlichen Analyse der
"Monetären, finanziellen und wirtschaftlichen Entwicklung", die rund
ein Viertel des Jahresberichtes beansprucht. Unter stetiger
Beobachtung des internationalen gesamtwirtschaftlichen Umfeldes kommen
hier so vielfältige Faktoren wie die Geldmengenentwicklung, die
Liquiditätsausstattung, die Kreditvergabe an Private und Unternehmen,
die Geldmarktsätze und Anleiherenditen, die Aktienkurse und die
Finanzierungskosten für Kapitalgesellschaften ins Spiel. Flankierend
betrachtet werden ferner die Preisentwicklung (einschließlich der
Auswirkungen höherer Energiekosten), die Produktions-, Nachfrage- und
Arbeitsmarktentwicklung (einschließlich der wirtschaftspolitischen
Implikationen) und nicht zuletzt die Analyse der Öffentlichen
Finanzen. Und weil die Europäische Währungsunion keine Insel der
Seligen ist, wird auch das europäische Umfeld mit den neuen
Mitgliedsstaaten der EU aber auch Großbritannien und Schweden noch
einer gesonderten Betrachtung unterzogen.
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Von höchster Wichtigkeit für die praktische Umsetzung der Geldpolitik,
so spürt man es in vielen dieser Passagen, ist der EZB die
Vergleichbarkeit der statistischen Erhebungsmethoden und die
konzeptionelle Basis. Der Harmonisierung statistischer Konzepte und
der volkswirtschaftlichen Forschung widmet sie deshalb eigene
Abschnitte des Jahresberichtes. Über die grundlegenden und
spezielleren Erläuterungen zur Geldpolitik hinaus werden aber auch
eine ganze Reihe von praxisrelevanten Themen aufgegriffen, die das
tägliche Bankgeschäft berühren, angefangen vom Zahlungsverkehr über
die Bargeldversorgung und die Finanzmarktaufsicht bis hin zu
Rahmenbedingungen wie der hauseigenen Kommunikationspolitik und
Corporate Governance. Zur Schaffung der gewünschten Offenheit und
Transparenz über die geldpolitischen Schritte beziehungsweise als
Nachweis der Effizienz der Arbeit, so hat man den Eindruck, sind die
Kommunikationspolitik und die Rechenschaftslegung gegenüber dem
Europäischen Parlament und der Öffentlichkeit für länderübergreifende
Institutionen wie die EZB noch wichtiger als für nationale. Beidem
widmet der Bericht ein eigenes Kapitel.
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Dass der EZB-Jahresbericht neben der Geldpolitik auch in vielen
anderen Tätigkeitsfeldern nur eine übergeordnete Betrachtung liefern
kann, zeigt sich beispielsweise an den Ausführungen zum
Zahlungsverkehr. Schon in seinem Vorwort weist der EZB-Präsident
darauf hin, wie wichtig dem Eurosystem die Schaffung eines
einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums ist. Er spricht sich dafür
aus, der Bevölkerung die Option Sepa (Single Euro Payments Area)
spätestens ab 2008 zur Verfügung zu stellen und plädiert ausdrücklich
für eine Einhaltung dieser Terminvorgabe. Mit dieser grundsätzlichen
Einschätzung deutet Jean-Claude Trichet gleichsam schon das Ergebnis
einer Stellungnahme an, die die EZB Ende April dieses Jahres, also gut
zwei Monate nach dem Redaktionsschluss ihres Jahresberichtes,
veröffentlicht hat. Die Notenbank begrüßt dabei in ihrem Votum für den
Rat der Europäischen Union grundsätzlich die Schaffung einer
Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt als entscheidenden
Schritt in Richtung Sepa, empfindet den vorliegenden Entwurf mit Blick
auf das neue Konzept der so genannten "Zahlungsinstitute" aber als
ergänzungsbedürftig (siehe Zentralbanken in diesem Heft). Am Zeitplan
von Sepa will die EZB freilich festhalten. Konkreter Vorschlag:
Gegebenenfalls soll die neue Richtlinie aufgeteilt und einer
Verabschiedung der Sepa-relevanten Teile Vorrang eingeräumt werden.
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Zwischen der Interessenlage der hiesigen Kreditwirtschaft und den
Banken in anderen europäischen Ländern bestehen in dieser Frage
bekanntlich Unterschiede (siehe Kreditwesen aktuell zu Sepa in Heft
6/2006). Deshalb ist es gerade beim Thema Massenzahlungsverkehr sehr
interessant, wie denn die Deutsche Bundesbank in ihrem
Geschäftsbericht 2005 diese Entwicklungen kommentiert, die in ihrer
Berichterstattung traditionell eine gewichtige Rolle spielen. Mit
Blick auf Sepa gibt sich die Bundesbank in ihrer Analyse diesmal
freilich sehr zurückhaltend und verweist lediglich auf die nachhaltige
Teilnahme am politischen Meinungsbildungsprozess sowie auf die
Mitarbeit in den nationalen Arbeitsgruppen des European Payment
Councils und die Kooperation mit dem deutschen Kreditgewerbe im
Zentralen Kreditausschuss. Und auch aus der Diskussion um den Zeitplan
einer Umsetzung hält sie sich zumindest im Geschäftsbericht 2005
heraus und verweist lediglich auf ihren politischen Dialog mit den
Sepa-Endnutzern, wie er im Monatsbericht Dezember 2005 veröffentlicht
worden ist.
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In dieser ausführlichen Abhandlung kommen die unterschiedlichen
Akzente der Bundesbank und der EZB in der Tat wesentlich deutlicher
zum Ausdruck: Dezent aber klar, wie es für eine überparteiliche
Institution notwendig ist, wird die geplante Sepa-Markteinführung im
Jahr 2008 an die Erfüllung von Bedingungen geknüpft, beispielsweise
den Abschluss der Rahmenwerke zum Sepa-Lastschriftverfahren. Zentrale
Lösungen, so gibt sich die Bundesbank weit weniger forsch als die EZB,
dürften auf absehbare Zeit kein Modell für die europäische Integration
darstellen, da sie eine strukturelle Revolution im europäischen
Zahlungsverkehr darstellen "und keine Evolution der heute bestehenden
effizienten Verfahren ermöglichen würden". Auf Dauer hält die
Bundesbank zwar eine Ablösung von national geprägten Systemen durch
Sepa-Verfahren für unumgänglich. Sie sieht die politische Akzeptanz
der diesbezüglichen Aktivitäten des Kreditgewerbes aber ernsthaft
gefährdet, wenn die Kosten des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs
dann deutlich über den heutigen im nationalen Bereich lägen. Zur
Erinnerung: Nicht nur die hiesige Kreditwirtschaft, sondern auch die
Bundesbank haben in der Vergangenheit wiederholt auf die Effizienz der
hiesigen Verfahren hingewiesen.
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Der EZB-Jahresbericht, so wird an diesem Beispiel deutlich, sucht in
der Behandlung relevanter Themen möglichst einen gemeinsamen Nenner
abseits der Partikularinteressen. In Einzelfragen kann es aber
durchaus gravierende Interessenunterschiede geben. Wer sich einen
aktuellen Stand über die großen Linien verschaffen will, ist deshalb
mit der Darstellung gut bedient. Wer sich selbst in die Diskussion um
möglicherweise kontroverse Themen einbringen beziehungsweise sich ein
fundiertes Urteil bilden will, bedarf zusätzlicher
Informationsquellen, aus dem Bereich anderer Notenbanken, aus der
Politik, aus der Wissenschaft und aus den vielen Interessengruppen,
die auf die EZB einwirken. Mo.

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