Aufsätze

Elefant im politischen Raum - die Krise und die ungeklärte EU-Governance

Zu den diversen Euro-Rettungsversuchen seit Mai 2010 bemühte Waltraud Schelkle von der London School of Economics kürzlich die englische Wendung vom "elephant in the room". Damit ist in der Umgangssprache die Vermeidung eines offensichtlichen, aber heiklen Themas gemeint, hier das bisherige Fehlen angemessener demokratischer Legitimation. Das könne zur weiteren Aushöhlung der Währungsstabilität, wenn nicht gar zu einer Zerstörung des Europäischen Währungssystems führen.1) Dieser Vergleich mit einem großen, eigentlich sehr klugen, aber bisweilen unberechenbaren Tier verleitet im deutschen Sprachgefühl zu recht lebhaften, geradezu wilden Assoziationen in Richtung Porzellanladen. Er gilt indessen nur dem Fundament der europäischen Kultur und Gesellschaftsordnung, der Demokratie.

Keine europäische Fiskalzuständigkeit

Als antieuropäisch oder unsolidarisch wird sich kein deutscher Politiker, der auf sich hält, bezeichnen lassen. Inzwischen sind an deutschen Stammtischen in Bezug auf Europa und europäische Solidarität allerdings deutlich reserviertere Äußerungen zu vernehmen. Hierauf wird auch die Politik zunehmend Rücksicht zu nehmen haben.

Zahlreiche Ökonomen, unter ihnen durchaus enthusiastische Europäer, haben von Anfang an auf den entscheidenden Geburtsfehler des Euros hingewiesen und seinen notwendigen Zerfall infolge des Fehlens einer zentralen europäischen Fiskalzuständigkeit samt Schatzamt vorhergesagt. Dass zusätzlich später gegen die im Maastricht Vertrag vorgesehenen Staatsverschuldungsgrenzen (auch) von Deutschland und Frankreich verstoßen und der Grundsatz fiskalischer Eigenverantwortung, also das sogenannte Bail-Out-Verbot, beim ersten Griechenland-Rettungspaket im Mai 2010 außer Kraft gesetzt wurde, konnte diese kritische Einschätzung nur bestätigen.

Ökonomische Vernunft plus europäische Finanzsolidarität hätten also die Einführung einer zentralen EU-Fiskalzuständigkeit zur Voraussetzung? Die gibt es aber noch nicht, und sie wird politisch weder leicht und prozedural bestenfalls auch nur nach einem mehrjährigen zähen Ringen durchsetzbar sein. Denn nach Lage der Dinge würde das auf eine Hegemonie Deutschlands oder - wenn man mal die nebulösen Ankündigungen einer europäischen Wirtschaftsregierung vom letzten deutsch-französischen Gipfel beim Wort nimmt - auf eine Hegemonie Deutschlands plus Frankreichs in Fragen der europäischen Fiskalpolitik herauslaufen. Das aber wird sich der Rest Europas kaum bieten lassen. Die noch immer lebendigen Ressentiments gegenüber Deutschland zeigen sich nicht nur anlässlich gelegentlicher politischer Polemik in Griechenland, sondern etwa auch in der sarkastisch unterhaltsamen, aber boshaft überspitzten Darstellung der Rolle Deutschlands vor und während der Finanzkrise seit 2007 durch den amerikanischen Finanzraconteur Michael Lewis.2) Großbritannien als traditionelle Wächterin eines Gleichgewichts der europäischen Mächte und das derzeit dem EU-Ministerrat präsidierende Polen, die beide nicht der Eurozone angehören, werden jeden Ansatz einer staatsstreichartigen Außerkraftsetzung der bisherigen EU-Governance durch Frankreich und Deutschland kategorisch zurückweisen.

Klare Interessenunterschiede

Aufgrund klarer Interessenunterschiede zwischen den EU Mitgliedsländern wird es also erst einmal kaum zu einer eindeutigen übernationalen EU-Fiskalzuständigkeit kommen, sondern bei Absichtserklärungen und vertraglichen Formelkompromissen im Ministerrat bleiben, deren Robustheit von jeder zukünftigen Krise wieder neu infrage gestellt werden wird. Angesichts dessen sollte Deutschland nicht auch noch die ökonomische Vernunft opfern und sich stattdessen dem fortgesetzten Marsch in die EU-Transferunion verweigern.

Aber auch die Verhinderung der Transferunion hat einen hohen Preis. Denn eine Staatspleite Griechenlands - die ist unumgänglich -, hätte, nicht wegen des für sich genommen überschau- und verkraftbaren Griechenlandrisikos, sondern aufgrund zusätzlicher Ansteckungsrisiken schwer abschätzbare negative Auswirkungen auf das globale Banken- und Versicherungssystem, das durch die bisherigen Bail-Outs von Griechenland, Irland und Portugal noch weitgehend ungeschoren blieb. Es geht also letztlich gar nicht um Griechenland, sondern noch oder schon wieder um die Systemrisiken des global unkontrolliert und eng vernetzten Finanzhandelsgeschäftes.

Natürlich sind die Banken und Versicherungen daran interessiert, weitere Opfer zu vermeiden. Deswegen malen sie Weltuntergangsszenarien für den Fall eines griechischen Bankrottes und eines temporären Ausscheidens Griechenlands aus dem Euroverbund an die Wand. Die krude Drohkulisse lautet, entweder Bail-Out oder finanzielle Kernschmelze weltweit. Dass die Politik sich hiervon schon wieder erpressen lassen könnte, liegt unter anderem auch an der in Bezug auf Europa noch immer verbreiteten Konvergenzideologie, nach der es bei Problemen mit der sich partout nicht einstellen wollenden Konvergenz immer nur die eine Antwort gibt: mehr Integration! Gespenstische Alternativszenarien werden projiziert, wie hoch der Schaden ausfallen könnte, wenn entweder Griechenland aus dem Euro ausscheidet versus wenn Deutschland ausscheidet. Aber sicher gibt es konstruktivere Kompromisse etwa in der Richtung, dass Griechenland vorübergehend die Drachme als gesetzliches Zahlungsmittel und Parallelwährung für Inlandtransaktionen einführt und Umschuldungsverhandlungen zu Euroauslandsverbindlichkeiten führt. Das verstößt natürlich gegen die Orthodoxie von der Freiheit des Kapitalverkehrs in der EU, aber kommt auf Dauer sicher billiger als eine explodierende Kostenspirale weiter unübersehbarer Bail-Outs zulasten der EU-Steuerzahler.

Eurobonds?

Trotz sehr schmerzhafter Folgen der dann notwendigen Anpassungen spricht daher vieles für einen fiskalisch verantwortlich restriktiven Weg, der über eine Abwertung der Drachme gleichzeitig wieder effektive Anreize für Eigenverantwortung und realwirtschaftliches Wachstum setzt. Natürlich wird es auch für diesen Fall bei den Banken nicht nur in Griechenland erheblichen Rekapitalisierungsbedarf geben. Für die in Deutschland seit Jahren überfällige Bankenrestrukturierung wäre das nicht der schlechteste Auslöser. Hierfür eingesetzte Steuergelder machen mehr Sinn als immer weiter ausufernde Bail-Outs.

Ökonomisch unsinnig ist dagegen die politische Forderung nach sowohl Eurostabilität plus Ausgabe von vergemeinschafteten Eurobonds, weil sie den Zusammenhang von Währungsstabilität und Fiskaldisziplin außer Betracht lässt. Der deutsche Wähler ist durch die Vermögensverluste seiner Eltern und Großeltern nach zwei auf Inflation folgenden Währungszusammenbrüchen offenbar genetisch noch immer so weit sensibilisiert, dass er die innere Widersprüchlichkeit dieser Position erkennt und sie deshalb ablehnt.

Im Übrigen - das hat die politische Führung dem Demos nahezubringen bislang sträflich versäumt - geht es längst nicht mehr nur um Europa, sondern um die sich mit großer Geschwindigkeit vollziehende Verschiebung der wirtschaftlichen Gewichte auf globaler Ebene. Wachsende Einsicht in einen mangels klarer europäischer Governance sicheren Bedeutungsverlust könnte die Vorbehalte gegen eine zentrale EU-Fiskalzuständigkeit nicht nur bei den Wählern, sondern auch bei den immer noch von nationalen Wahlen abhängigen Politikern überwinden helfen. Natürlich ist festzustellen, dass dieser eigentlich überfälligen Einsicht handfeste politische und wirtschaftliche Interessen entgegenstehen. Vilfredo Pareto beschrieb solche Konstellationen als "die Persistenz der Aggregate".

Strategisch bewusste Diversität und Differenzierung

Ein Auseinanderfallen des Euroraumes wird aber keineswegs notwendig das Ende des Euros oder des Europaprojekts bedeuten müssen. Vielmehr war das Optimum der finanz- und geldpolitischen Integration der EU offenbar schon seit Jahren längst überschritten. Das risikovergessene zu schnell und zu viel an geldpolitischer Integration war eigentlicher Krisenauslöser. Strategisch bewusste Diversität und Differenzierung wären demnach der nachhaltigere Lösungsansatz für europäische Governance. Die nach wie vor ungelösten Grundfragen der zukünftigen Verfasstheit Europas sind also neu zu stellen. Denn nachdem die Konvergenzillusionen EUweit eindeutig getrogen haben, ist das stumpfsinnige Beharren auf einfach mehr Integration auch ökonomischer Unsinn.

Sind die Polen etwa weniger enthusiastische und vertrauenswürdige Europäer, weil sie noch immer den Zloty statt des Euros haben? Mit dem Zloty hat Polen jedenfalls als einziges EU-Mitgliedsland die Rezession der Eurozone in 2009 vermeiden können. Umgekehrt bleibt der Beitrag der per 1. Juli 1990 den neuen deutschen Bundesländern verpassten Wirtschafts- und Währungsunion zur Zerstörung der dortigen Wirtschaftsstruktur eindrucksvoll abschreckendes Beispiel gegen die bei Ökonomen und Eurokraten noch immer vorherrschende Orthodoxie von "mehr Integration" als Patentrezept bei regionalen Produktivitäts- und Wettbewerbsunterschieden.

Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls konnte die Grundfragen zur Verfassungswirklichkeit in seinem Urteil zum Rettungsschirm weder ansprechen noch entscheiden. Andere Erwartungen waren fehl am Platz. Denn die prekäre Dynamik von verfassungsrechtlich vorgegebenen Rechtsschranken und einer der ursprünglichen Normierungsintention des deutschen Grundgesetzgebers längst entrückten interstaatlichen europäischen Normsetzungsrealität kann nur vom verfassungsändernden Gesetzgeber wieder in ein dem demokratischen Legitimationsgebot entsprechendes Gleichgewicht gebracht werden. Die vom Bundesverfassungsgericht nurmehr geforderte Zustimmung des Haushaltsausschusses entspricht diesem Legitimationsgebot nicht im Mindesten. Es bleibt also vorerst bei der sich empörend verstärkenden Tendenz zu Intransparenz und Kontrolldefizit der Exekutive.

Deswegen zunehmende politische Auseinandersetzungen sollten begrüßt werden, unabhängig davon, ob den Regierenden eine Stabilisierung des Euro gelingt oder vielleicht auch nur die verstohlen gewollte, niemals öffentlich zugegebene Mittelposition im inzwischen weltweit sich beschleunigenden Abwertungswettrennen zum Schutz der eigenen Exportwirtschaft. Das brächte die Chance grundsätzlich neuer Lösungsansätze in einem demokratischkritischen Diskurs, in dem zuletzt die Skepsis überwog. Mehr Macht dem Ministerrat oder mehr Macht der Kommission? Jedenfalls wird die gegenwärtige Konstruktion eines Präsidenten der EU-Kommission, eines alle sechs Monate rotierenden Vorsitzenden des Ministerrates und eines ständigen Präsidenten des Ministerrates, der neuerdings auch Vorsitzender einer europäischen Wirtschaftsregierung - zumindest für die nächsten zwei Jahre - werden soll, schon jetzt in Asien und USA weder verstanden noch ernst genommen.

Fußnoten

1) The Euro Area after Another Crisis Summit: Ignore the Elephant in the Room at your Peril; In: Intereconomics 2011/4, Seiten 178 bis 179 als download unter http://www.intereconomics.eu/.

2) It's the Economy, Dummkopf, in der September 2011 Ausgabe von Vanity Fair, download unter http://www.vanityfair.com/business/features/ 2011/09/europe-201109.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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