Aufsätze

Gegenwart und Zukunft der Genossenschaftsbanken im alpinen ländlichen Raum am Beispiel Südtirols

In Südtirol hat das Genossenschaftswesen eine große wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung. Die Ursprünge reichen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Vorrangiges Ziel der aufgrund der Industrialisierung verarmten ländlichen Bevölkerung war es, die Lebensgrundlagen zu sichern und dauerhaften Wohlstand zu schaffen.

Denn die Landbevölkerung in Tirol stand vielerorts vor dem wirtschaftlichen Kollaps: Industrieware verdrängte die Produkte der Selbstversorgerbetriebe, über die neu gebauten Brenner- und Pustertaler Bahnlinien wurden Waren importiert, gleichzeitig gingen für heimische Produkte Absatzmärkte in Oberitalien verloren. Die Landbevölkerung reagierte. Der 1881 gegründete "Landeskulturrat für Tirol" unterstützte die Bildung von Raiffeisen-Vereinen. Schon 1877 wurde in Niederdorf die erste Raiffeisen-Genossenschaft auf Südtiroler Gebiet gegründet. 1889 nahm in Welschellen im Gadertal die erste Raiffeisenkasse ihre Tätigkeit auf.

Einrichtungen zur "gedeihlichen" Lösung der sozialen Frage

"Vereine zur gegenseitigen Unterstützung" waren laut der von Papst Leo XIII 1891 erlassenen Enzyklika "Rerum Novarum" bedeutende Einrichtungen zur "gedeihlichen" Lösung der sozialen Frage. Deshalb gründeten vor dem Ersten Weltkrieg viele Priester und Geistliche Raiffeisen-Genossenschaften und standen diesen auch in leitenden Positionen vor. 1910 gab es in Südtirol und im Trentino bereits 807 Genossenschaften, davon 282 nach dem Raiffeisen-Prinzip geführte Spar- und Darlehenskassen-Vereine.

In den zwanziger und dreißiger Jahren setzten Faschismus und Weltwirtschaftskrise den Raiffeisenkassen besonders zu. Freie Genossenschaftsverbände wurden aufgelöst. Bis 1940 optierten mehr als 200 000 Südtiroler für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit für die Emigration ins nationalsozialistische Deutsche Reich, darunter zahlreiche Verwaltungs- und Aufsichtsräte der Raiffeisenkassen, deren Vermögen vor der Ausreise liquidiert werden musste. Von den 135 Raiffeisenkassen blieben bis Kriegsende nur 55 übrig.

Bereits wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann man mit dem Wiederaufbau der Südtiroler Raiffeisenorganisation. 1946 wurde der Hauptverband Landwirtschaftlicher Genossenschaften gegründet, im gleichen Jahr schlossen sich 14 Raiffeisenkassen zum Verband der Raiffeisenkassen zusammen.

Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor

Inzwischen stellt das Genossenschaftswesen einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Ende des Jahres 2013 waren im Register des Landesamtes für Genossenschaftswesen insgesamt 1 003 Genossenschaften mit über 165 000 Mitgliedern eingetragen. Der Raiffeisenverband zählt 342 Mitgliedsgenossenschaften, der Genossenschaftsverband Confcooperative Italiane 276, der Lega Coop Bund 178 und die Associazione Generale Cooperative Italiane 86. Keinem Verband angeschlossen sind 117 Genossenschaften. Südtirol weist heute in Italien die höchste Dichte an Genossenschaften in Bezug auf die Bevölkerung auf: 1,58 Genossenschaften kommen auf 1 000 Einwohner, der italienische Durchschnitt liegt bei 1,19.

Südtirols Genossenschaften bieten knapp 11 000 Personen einen sicheren Arbeitsplatz. Über 4 000 Menschen sind in den landwirtschaftlichen Genossenschaften beschäftigt, knapp 1 900 in Sozialgenossenschaften, 1 700 bei den Raiffeisenkassen.

In Bezug auf die Wirtschaftskraft haben im Jahre 2012 Südtirols Genossenschaften - ausgenommen Kreditgenossenschaften - einen Umsatz von 2,7 Milliarden Euro generiert. Mit 1,8 Milliarden Euro stehen die landwirtschaftlichen Genossenschaften unangefochten an der Spitze, wovon die Raiffeisen-Genossenschaften der Bereiche Obst, Wein und Milch den Löwenanteil ausmachen.

Die Bruttowertschöpfung liegt bei 633 Millionen Euro. Dies bedeutet, dass die Raiffeisenorganisation für jeden einzelnen Haushalt in Südtirol mehr als 3 000 Euro an Bruttowertschöpfung generiert.

Der Raiffeisenverband

Die Autonome Region Trentino-Südtirol ist in Italien etwas Besonderes - auch wenn es um das Genossenschaftswesen geht. 1948 hat der Staat der Region die Aufsicht über die in den Provinzen Bozen und Trient ansässigen Genossenschaften übertragen. 1954 wird das Gesetz zur "Überwachung der Genossenschaften" verabschiedet. 1960 entstand aus der Verschmelzung des Verbandes der Raiffeisenkassen mit dem Landesverband der Südtiroler Landwirtschaftlichen Genossenschaften der "Raiffeisenverband Südtirol". Er wurde im Laufe der Zeit zentrales Revisionsorgan für die Raiffeisen-Genossenschaften.

Gleichzeitig führte der Verband das Giebelzeichen als offizielles Symbol für sich und seine Mitgliedsgenossenschaften ein. 1968 wurde schließlich das Raiffeisenhaus in Bozen eingeweiht. Es bildet seither den Mittelpunkt eines erfolgreichen und stetig wachsenden Raiffeisen-Netzwerks in Südtirol. Die rechtlich eigenständigen Genossenschaften und ihre Fachverbände sind im Raiffeisenverband zusammengeschlossen, der die strategische Führungsfunktion inne hat und für die Förderung, Entwicklung und Überwachung seiner Mitgliedsgenossenschaften verantwortlich ist. Im Artikel 2 des Statutes des Raiffeisenverbandes steht: "Der Raiffeisenverband Südtirol ist von den Grundsätzen des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen geleitet und auf die genossenschaftliche Förderung der Gegenseitigkeit ohne private Kapitalspekulation ausgerichtet."

Nutzenstiftung für die Mitglieder

Mit seinen 329 Genossenschaften, 13 Genossenschaftsverbänden, also 342 Mitgliedern und 28 Körperschaften ohne Revisionspflicht stellt der Raiffeisenverband nach wie vor den größten Revisionsverband in Südtirol dar. Er ist die Dachorganisation aller Raiffeisen-Genossenschaften und übt zudem die Funktion eines Fachverbandes der Raiffeisen Geldorganisation aus, der alle Raiffeisenkassen und die Raiffeisen Landesbank angehören. Mit seiner Arbeit fördert der Raiffeisenverband die Leistungskraft und Entwicklung der Mitgliedsgenossenschaften. Dies gilt für die Vertretung genossenschaftlicher Anliegen, die fachkompetente Beratung in allen betriebswirtschaftlichen, zivil-, steuer-, arbeitsrechtlichen und organisatorischen Fragen, für die Erbringung zuverlässiger und anwenderfreundlicher IT-Leistungen wie auch speziell für die objektive und unabhängige Prüfungstätigkeit einschließlich der gesetzlichen Rechnungsprüfung. Alle Aktivitäten zielen darauf ab, das Raiffeisen-Genossenschaftswesen in seiner Leistungsfähigkeit, Stabilität und Kontinuität zu begünstigen.

Die Dienstleistungspalette des Raiffeisenverbandes beinhaltet:

- Genossenschaftsüberwachung

- Bilanzabschlussprüfung

- Unternehmensberatung

- Marketing

- Rechts- und Steuerberatung

- Personalberatung

- Buchhaltung

- Weiterbildung

- Versicherungsdienste

- Raiffeisen-Informationstechnologie

- Aufsichtsrechtliche Beratung und Compliance

- Interessensvertretung und Lobbyarbeit.

Der Raiffeisenverband betreibt keine Kapital- oder Gewinnspekulation, sondern verfolgt das Ziel, Nutzen für die Genossenschaftsmitglieder zu stiften und zu mehren. Ebenso fördert er die Verbreitung des Genossenschaftsgedankens und unterstützt genossenschaftliche Initiativen.

Der Raiffeisenverband Südtirol ist gesetzlich anerkannter Revisionsverband. Die Aufsichtsfunktion der Revisionsdirektion umfasst im Wesentlichen zwei Bereiche:

- die Durchführung der ordentlichen zweijährlichen und der außerordentlichen Revisionen bei allen Mitgliedsgenossenschaften und

- die Abschlussprüfung bei abschlussprüfungspflichtigen Genossenschaften. Die Abschlussprüfung ist für all jene Genossenschaften vorgeschrieben, die ihre Satzungen nach den Regeln der Aktiengesellschaft ausgerichtet haben und in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren zwei der folgenden Größen überschreiten: eine Million Euro Bilanzsumme, zwei Millionen Euro Umsatz und die Anstellung von durchschnittlich zehn Mitarbeitern im Jahr (Art. 40. Abs. 1 Reg.-Ges. 5/2008).

Die Raiffeisenkassen Südtirols

Südtirol ist mit einer Landesfläche von 7 400 km² die nördlichste Provinz Italiens. Weniger als drei Prozent der Landesfläche sind besiedelt. 97 Prozent verteilen sich auf Felder, Wälder, Almen und Gebirge sowie Obst-, Wein- und Ackerbau. Dabei liegen 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche auf oder über 1 500 m über dem Meeresspiegel. Deutlich mehr als ein Drittel der Flächen weist eine Hangneigung über 30 Prozent auf. Die Steilheit der Felder, die den Einsatz teurer Spezialmaschinen notwendig macht, und die Höhenlage, welche die Vegetationszeit verkürzt, spielen dabei eine maßgebliche Rolle. Aber auch die Zerstückelung des Betriebes, die Entfernung zum nächsten Zentrum oder die Zufahrtsmöglichkeiten sind entscheidend für Bewirtschaftung oder Auflassung von Bergbauernhöfen.

Seit jeher sind die Raiffeisenkassen von der bäuerlichen Bevölkerung als erster Ansprechpartner im Bereich Finanzen gesehen worden. Waren es doch mehrheitlich Bauern, die die Kassen Ende des 19. Jahrhunderts gründeten und leiteten. Bis 1993 galt die gesetzliche Bestimmung, wonach 80 Prozent der Mitglieder Bauern und Handwerker sein mussten.

Inzwischen haben sich die Raiffeisenkassen zu unverzichtbaren Geldgebern für die gesamte mittelständische Wirtschaft entwickelt. Aus den ehemaligen Dorf- und Bauernkassen sind so leistungsstarke Kredit institute mit einem dichten Schalter- und Filialnetz geworden. Von 1970 bis 1990 hat sich die Höhe der Einlagen verdoppelt. Auch die Liberalisierung des italienischen Bankensystems Mitte der neunziger Jahre hat zu dieser Expansion wesentlich beigetragen.

Lag der Marktanteil in den siebziger Jahren noch bei etwas mehr als 20 Prozent, so liegt er heute bei 47 Prozent. Innerhalb der Raiffeisen-Genossenschaften nimmt die Raiffeisen-Geldorganisation (RGO) heute die zentrale Rolle ein. Sie umfasst 47 Raiffeisenkassen mit 191 Bankstellen, die Raiffeisen Landesbank AG und den Raiffeisen Versicherungsdienst, der 1990 als Generalagentur der italienischen Versicherungsgesellschaft Assimoco gegründet wurde und an der die deutsche R+V Versicherung mehrheitlich beteiligt ist.

Trotz negativer Vorzeichen, die auf die wirtschaftliche Entwicklung in Italien zurückzuführen ist, konnte sich Raiffeisen in Südtirol auch in den letzten Jahren behaupten. Am Eindringlichsten zeigen dies die Bilanzdaten: Die direkten Kundeneinlagen sind im Jahr 2013 um 7,75 Prozent angestiegen und erreichten zum Bilanzstichtag den Wert von 9,87 Milliarden Euro. Das Kreditvolumen wuchs um 0,25 Prozent auf 9,34 Milliarden Euro, und das Kundengeschäftsvolumen erreichte knapp 21,5 Milliarden Euro, bei einer Steigerung von 3,7 Prozent. Die Eigenkapitalquote aller Raiffeisenkassen Südtirols beträgt 15 Prozent der Bilanzsumme, was im europäischen Durchschnitt einen Spitzenwert darstellt.

Perspektiven im ländlichen Raum

Die neuen Eigenkapitalrichtlinien, die im Reformpaket von Basel III festgeschrieben wurden, die zu errichtende Bankenaufsicht als Teil eines einheitlichen Aufsichtsmechanismus der Europäischen Zentralbank (EZB), die sich stetig ändernden steuerrechtlichen Rahmenbedingungen - all diese Faktoren stellen besonders kleine Raiffeisenkassen vor große Herausforderungen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden lokal agierende Genossenschaftsbanken neue Kooperationen eingehen, bestimmte Dienste auslagern und sich zu größeren Einheiten zusammenschließen müssen, will man der Schnelllebigkeit der Märkte und dem zunehmenden Kostendruck entgegentreten.

Trotz der anhaltenden Schwierigkeiten blicken Südtirols Raiffeisenkassen jedoch mit Zuversicht in die Zukunft, zumal sie die Krisenjahre bislang gut überstanden haben. Die Versorgung der heimischen Wirtschaft mit Krediten, eines der Kerngeschäfte, konnte weiter ausgebaut werden. Während italienweit von einer Kreditklemme gesprochen wird, ist das Bruttokreditvolumen von Raiffeisen in den Krisenjahren zwischen 2009 bis 2013 im Jahresdurchschnitt knapp vier Prozent gewachsen. Damit können die Raiffeisenkassen und die Raiffeisen Landesbank als zentrales Geldinstitut seit über zehn Jahren eine kontinuierliche Steigerung der Ausleihungen vorweisen.

Die Raiffeisenkassen sind also nach wie vor in der Lage, die heimische Wirtschaft in Bereichen zu unterstützen, die wesentlich zur wirtschaftlichen Erneuerung und Belebung des ländlichen Raumes beitragen. Als eines von vielen Beispielen sei in diesem Zusammenhang die Initiative der lokalen Raiffeisenkassen des Eggentales genannt. Das Tal unweit der Landeshauptstadt steht im Mittelpunkt eines Forschungsprojektes, das die angrenzenden Gemeinden gemeinsam mit der Freien Universität Bozen und den Raiffeisenkassen initiiert haben.

Vorrangiges Ziel des vom Europäischen Sozialfonds unterstützten Projekt ist es, verbesserte Direktvermarktungsmöglichkeiten für Landwirte durch den Verkauf von bäuerlichen Produkten über örtliche Lebensmittelhändler zu schaffen, die Nahversorgung der Bevölkerung durch Stärkung von lokalen Kreisläufen zu verbessern und traditionelle Aktivitäten mit modernen Vermarktungsstrukturen zu vernetzen. So haben sich 15 Bauern im Eggental zur Vereinigung "Eggentaler Qualitätsprodukte" zusammengeschlossen, um ihre Produkte besser zu vermarkten.

Raum für neue Genossenschaften

Aufgrund der Abnahme der öffentlichen Beiträge im Gesundheits- und Sozialbereich und des graduellen Rückzuges der öffentlichen Institutionen aus wichtigen wirtschaftlichen Bereichen ist das genossenschaftliche Grundprinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" aktueller denn je, sodass man in Südtirol davon ausgehen kann, dass in den kommenden Jahren neue Geschäftsfelder und neue Genossenschaften, vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich, entstehen werden. Die Raiffeisenkassen tragen eine große Verantwortung bei solchen Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, den ländlichen Raum zu unterstützen und damit die eigene Wirtschaftsgrundlage zu sichern.

Werte wie soziale Verantwortung, Sicherheit und Vertrauen gewinnen eine immer größere Bedeutung. Daraus ergeben sich für die lokalen genossenschaftlichen Raiffeisenkassen große Chancen, die es zu nutzen gilt.

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