Aufsätze

LTAV - ein zusätzliches Werkzeug zur Wertermittlung von Schiffen

Bis zum Jahre 2009 wurde der Marktwert von Schiffen ausschließlich nach dem Vergleichswertverfahren ermittelt. Seit dem Jahre 2009 wurde das nachfolgend beschriebene LTAV-Bewertungsverfahren (Long Term Asset Value) ent wickelt. Der Marktwert eines Schiffes wird, wie bei jedem anderen Gut (zum Beispiel ein Barrel Öl/eine Tonne Getreide), aus verschiedensten Gründen auf Basis von zeitnahen Verkäufen ohne Berücksichtigung der Charter (Mieteinnahmen für das Schiff) ermittelt.

Stichtagsbezogene Marktwertermittlung gefordert

Insbesondere Banken fordern aus aufsichtsrechtlichen Vorgaben von Bundesbank/ BaFin sowie aus Risikogesichtspunkten eine stichtagsbezogene Marktwertermittlung. Der Marktwert soll den Preis abbilden, der für das jeweilige Schiff zum Bewertungsstichtag zu erzielen wäre, um bei der Finanzierung von Schiffen dem Risikogedanken der finanzierenden Banken Rechnung zu tragen sowie die gesetzlichen Vorschriften, die eine Finanzierung ermöglichen, zu genügen. Insbesondere sind hier das Pfandbriefgesetz sowie die Schiffsbeleihungswertermittlungsverordnung zu nennen. Beide gesetzlichen Vorschriften schreiben vor, dass Marktwerte von am Markt erzielten Preisen für hinreichend ähnliche Schiffe abzuleiten sind.

Der Marktwert ist nach § 9 Schiffsbeleihungswertermittlungsverordnung der geschätzte Betrag, für welchen ein Schiff am Bewertungsstichtag zwischen einem verkaufsbereiten Verkäufer und einem kaufbereiten Erwerber, nach angemessenem Vermarktungszeitraum, in einer Transaktion im gewöhnlichen Geschäftsverkehr verkauft werden könnte, wobei jede Partei mit Sachkenntnis, Umsicht und ohne Zwang handelt. Die gesetzlichen Vorschriften geben somit vor, dass die zur Bewertung herangezogenen Verkaufspreise in einem funktionierenden Markt ohne Zwang und ohne außergewöhnliche Umstände zustande gekommen sind. Insofern gehört neben einer ausreichenden Anzahl von Transaktionen zu einer Wertbildung auch eine zur Verfügung stehende Finanzierungsmöglichkeit dieser Objekte, was eine wesentliche Voraussetzung für einen funktionierenden Markt ist.

Dieses ist in vielen verschiedenen Marktsegmenten der Schifffahrt heute nicht gegeben. Der An- und Verkaufsmarkt von Schiffen wird heute in vielen Schifffahrtssegmenten dominiert von Notverkäufen aus verschiedensten Gründen. Insofern entsprechen in vielen Fällen die seit 2009 erzielten Schiffspreise nicht den Preisen, die bei einem normalen Verkauf zwischen einem verkaufswilligen Verkäufer und einem kaufwilligen Erwerber zustande gekommen wären. Dies ist hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass sich Banken aus verständlichen Gründen zum Teil oder komplett aus der Schiffsfinanzierung zurückgezogen haben oder sich bei der Vergabe von Schiffskrediten sehr restriktiv verhalten.

Die Folge ist eine mangelnde Finanzierungsmöglichkeit bei möglichen Käufern von Schiffen. Hiervon geht ein erheblicher negativer Einfluss auf den An- und Verkaufsmarkt aus. Gemeinsam mit anderen, nicht genannten Einflüssen bedeutet dies, dass zumindest in diversen Segmenten des Schiffsan- und -verkaufsmarktes keine normalen, marktüblichen Verhältnisse vorherrschen. Insofern sind die derzeit geschätzten Marktwerte von Schiffen zwar von den am Markt erzielten Schiffspreisen abgeleitet. Es kann allerdings bezweifelt werden, ob es sich hierbei um Preise handelt, die einem normalen Marktgeschehen geschuldet sind.

Einbeziehung des langfristigen Ertragspotenzials

Bei einer ausschließlichen Zugrundelegung des stichtagsbezogenen Marktwertes eines Schiffes für eine Finanzierung, insbesondere durch die Aufsichtsbehörden wie Bundesbank und BaFin, wird jedoch nicht berücksichtigt, dass Schiffe, vergleichbar mit Unternehmen anderer Branchen, längerfristig betrieben werden, um Erträge zu generieren. Bei schifffahrtsfremden Unternehmen ist es üblich, dass Investoren und Banken das langfristige Ertragspotenzial in die Entscheidung eines sinnvollen Investments beziehungsweise in die Vergabe eines Kredits einbeziehen. Daher werden bei Investitionen in Unternehmen sowie für Finanzierungen neben dem Verkaufspreis auch die zu erwartenden Erträge berücksichtigt. Zu erwartende Erträge wurden bei Schiffsfinanzierungen, insbesondere aus aufsichtsrechtlichen Gründen, bisher nicht bei der Wertbetrachtung eines Schiffes einbezogen.

Eine anerkannte Methode zur Ermittlung des Ertragspotenzials beziehungsweise des Ertragswertes eines Unternehmens ist die sogenannte Discounted-Cash-Flow(DCF)-Methode. Deshalb wurden von der Vereinigung Hamburger Schiffsmakler und Schiffsagenten (VHSS) in Zusammenarbeit mit Schiffsschätzern, Schiffsbeleihungsbanken, Reedern und Wirtschaftsprüfern die "Hamburg Ship Evaluation Standards" (HSES) entwickelt. Die HSES sind eine von Marktstörungen unabhängige, am langfristigen, nachhaltigen Ertragspotential eines Schiffes orientierte Bewertungsgrundlage (Long Term Asset Value/LTAV). Basis für dieses Bewertungsverfahren ist das Barwert- beziehungsweise das DCF-Verfahren, angepasst an die Erfordernisse der Schiffsbewertung. Bei der Entwicklung des Verfahrens wurde auf konservative, nachhaltige und statistisch belegbare Ansätze Wert gelegt.

Ergänzung des Vergleichswertverfahrens

Durch die HSES/den LTAV soll das in der Schifffahrt angewandte Vergleichswertverfahren zur Bildung der Marktwerte ergänzt (jedoch nicht abgelöst) werden, um so einen zweiten Indikator für den heranzuziehenden Wert eines Schiffes zu haben. Die HSES/der LTAV wurden entwickelt, um bei funktionierenden und insbesondere bei gestörten Märkten einen konservativen, objektivierten und nachhaltigen Ertragswert eines Schiffes zu bestimmen. Bei gestörten Märkten kann dieser sowohl bei Marktunter- als auch bei Marktübertreibungen als Regulativ herangezogen werden.

Durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse-Coopers (PwC) wurde eine Validierung des HSES durchgeführt. PwC ist zu dem Schluss gekommen, dass der HSES ein plausibles und angemessenes Bewertungsverfahren ist und dem vom Institut der Wirtschaftsprüfer herausgegebenen Standard IDW S1 entspricht. Zur Ermittlung des "Long Term Asset Values" wurde folgende Formel entwickelt (siehe Kasten).

Vorgegebene Bandbreiten als auch umfassende Wahlmöglichkeiten bei einzelnen Parametern lassen dem Anwender Handlungsspielraum, um auf die individuellen Anforderungen des zu bewertenden Schiffes eingehen zu können. Insofern muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es beim LTAV wie auch bei jedem anderen die DCF-Verfahren darauf ankommt, dass die Eingaben nachhaltig und konservativ gewählt werden, um ein nachhaltiges Ergebnis zu gewährleisten. Natürlich besteht auch bei diesem Verfahren wie bei jedem anderen DCF-Verfahren die Gefahr des Missbrauchs durch Eingabe unrealistischer Parameter.

Es muss ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass ein LTAV-Gutachten neben der Berechnung allerdings noch eine Präambel zur Ermittlung des LTAV mit Erläuterungen zur bereits oben genannten Formel sowie der vom Gutachter festgesetzten Parameter enthält. Des Weiteren sollte ein vollständiges Gutachten Anmerkungen beinhalten, warum Annahmen und damit die Parameter so vom Gutachter gewählt wurden, um sicherzustellen, dass ein Wertgutachten nach dem LTAV-Verfahren nachhaltig und nachvollziehbar ist.

Zunehmende Verwendung bei Schiffsbewertungen

Das HSES/LTAV-Verfahren soll als weiterer Indikator für die Werthaltigkeit eines betrachteten Schiffes dienen. Ähnliche Ertragswertverfahren werden auch in anderen Assetklassen angewandt, wie zum Beispiel in der Flugzeugindustrie und in der Immobilienbranche. Der LTAV nach dem Hamburg Ship Valuation Standard ist eine der Schifffahrt angepasste DCF-Methode und entspricht dem anerkannten Standard IDW S1. Insofern ist das konservativ angewandte LTAV-Verfahren ein probates Mittel, um den Ertragswert eines Schiffes festzustellen. An einer zunehmenden Anzahl von Schiffsbewertungen mittels des LTAV kann festgestellt werden, dass zur Beurteilung neben dem Marktwertverfahren auch das LTAV-Verfahren herangezogen wird und dass eine Berücksichtigung des Ertragswertes vermehrt Eingang in die Schifffahrt findet.

Die Berechtigung hierfür mag an folgendem Beispiel deutlich werden: Es wurde am 8. Februar 2013 der Verkauf des Bulkers "Sri Prem Putli", Baujahr 1993, 280 537 Ladetonnen (tons dead weight - tdw), für 44,4 Millionen US-Dollar unter Berücksichtigung einer 14-jährigen Charter vermeldet. Dieser Verkaufspreis ist unter Einbeziehung von Ertragsgesichtspunkten erzielt worden, da der Marktwert beziehungsweise der Schrottwert bei diesem alten Schiff bei etwa 13,7 Millionen US-Dollar liegt. Das Schiff ist lediglich aufgrund der zu erwartenden Erträge für einen derartig hohen, vom Marktwert abweichenden Preis verkauft worden.

Eine Vielzahl anderer Fälle belegt, dass das LTAV-Verfahren durchaus seine Berechtigung findet, wenngleich dies noch nicht Eingang bei den Aufsichtsbehörden gefunden hat. Neueste Entwicklungen zeigen jedoch, dass dieses Verfahren zumindest von den Aufsichtsbehörden diskutiert wird.

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