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Peter Lutz - Was ist eigentlich "systemisches Risiko"?

Systemisches Risiko ist spätestens seit der Finanzmarktkrise ein Begriff. Viele Staaten sahen sich gezwungen, Banken zu unterstützen, die durch Fehlentscheidungen ihres Managements in Schieflagen geraten waren, um Schlimmeres zu verhindern. Doch was verbirgt sich hinter systemischem Risiko und wie kann man es eindämmen? Nun, die OECD definiert es als ein Risiko, das Auswirkungen auf für die Gesellschaft bedeutende Systeme hat, wie zum Beispiel auf das Gesundheitswesen, die Umwelt oder die Telekommunikation.1)

Wegen der wichtigen Funktionen, die der Finanzsektor für die Realwirtschaft übernimmt, müssen systemische Risiken dort natürlich besonders berücksichtigt werden. Sie können ihre Ursache in schwerwiegenden Störungen von außen haben, die die Finanzmärkte so nachhaltig beeinträchtigen, dass es zu erheblichen negativen Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft kommt. Für die Finanzaufsicht interessanter sind allerdings die systemimmanenten Ursachen. Die Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Finanzsektors entsteht dabei aus der Schieflage eines oder mehrerer Finanzinstitute und der Abhängigkeiten zwischen Marktteilnehmern.2)

Die Schieflage bereitet sich dabei in den allermeisten Fällen über den sogenannten Dominoeffekt aus: Ein in Schwierigkeiten geratenes Institut kann seine Verpflichtungen nicht mehr erfüllen und bringt so seine Vertragspartner in Probleme - eingeräumte Kreditlinien können nicht mehr in Anspruch genommen werden, Absicherungen gegen Markt- oder Kreditrisiken fallen weg oder es werden schlicht die ausstehenden Forderungen nicht mehr bedient. Eine andere Spielart des Dominoeffekts verwirklicht sich durch den ausbreitenden Verfall von Marktpreisen. Der erzwungene Abbau von großen Wertpapierbeständen durch das oder die problembehafteten Institute verursacht Druck auf die Kurse, sodass Dritte ihre Bestände abwerten und dadurch existenzielle Verluste erleiden müssen.

Informationsdefizite können ebenfalls systemische Risiken bedingen: Ungewissheit lässt Marktteilnehmer auch bei Instituten Schwächen vermuten, die vergleichbar zum Ausgefallenen sind. Sie beenden deshalb die Geschäftsbeziehungen und lösen damit erst die Probleme aus. Dies ist zum Beispiel der typische Fall des Bank Runs, bei dem besorgte Kunden ihre Einlagen undifferenziert von Banken abziehen. Zu Beginn der Finanzmarktkrise und nach der Lehman-Pleite trocknete der Interbankenmarkt nahezu völlig aus. Liquidität wurde gehortet oder bei den Zentralbanken geparkt. Refinanzierung war dann wiederum nur über die Zentralbanken darzustellen.

Diese Transmissionskanäle zeigen auf, dass systemische Risiken nicht nur von sehr großen Instituten ausgehen können. Sicherlich sind bei diesen, als "too big to fail" oder kurz "TBTF"-Bezeichneten, die Ansteckungsmöglichkeiten eher gegeben. Aber auch ein deutlich kleineres Institut kann durch seine Vernetzung ein systemisches Risiko bedeuten. Neben dem TBTF bestimmt daher auch das "too connected to fail" die Diskussion in Politik und Regulierung.

Wie kann man nun der Gefahr des systemischen Risikos begegnen? Hierfür gibt es weder eine einfache noch eine eindimensionale Lösung. Es gilt, die einzelnen Marktteilnehmer krisenresistenter zu machen und die Transmissionsmechanismen zu verhindern.

Systemische Risiken sind die Folgen negativer externer Effekte. Externe Effekte bestehen immer dann, wenn Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte auftreten, wie beim Passivraucher oder der von einem Run mitgerissenen Bank. Ihnen kann man durch Verbote oder durch Internalisierung begegnen. Internalisierung bedeutet, die Kosten dem Verursacher aufzubürden, die der Gemeinschaft durch dessen Handeln entstehen. Dies kann durch regulatorische Kapitalanforderungen geschehen. Daher wird beim Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht über höhere Kapitalanforderungen für sogenannte systemrelevante Institute diskutiert. Diese sollen das Betreiben eines großen systemisch relevanten Instituts wirtschaftlich uninteressanter machen, oder über die höheren Kapitalanforderungen zumindest die Widerstandsfähigkeit gegen Schieflagen erhöhen. Der Ansatz erfordert allerdings zu definieren, wann ein Institut systemisch relevant ist. Neben der Größe kommt dabei die Vernetzung mit anderen Marktteilnehmern zum Tragen.

Auch Institute mit eher kleinerer Bilanzsumme können durch besondere Dienstleistungen, die sie zum Beispiel im Zahlungsverkehr oder als Depotbank anbieten, ein Ausmaß an Vernetztheit aufweisen, der systemische Relevanz bedeutet. Der Aspekt der Verbundenheit mit anderen Marktteilnehmern ist aber nur schwer in allgemein gültigen Aufsichtsregeln umzusetzen. Die immer wieder aufkommenden Ideen, eine Art Risikolandkarte zu erstellen, die darstellt, wie die einzelnen Institute miteinander oder zu Dritten in Geschäftsbeziehungen stehen, scheitern bislang stets an der Komplexität der Informationsgewin-nung, -verarbeitung und-darstellung.

Statt höherer Kapitalanforderungen für systemisch Relevante könnten die Geschäftsbeziehungen zu ihnen mit höheren Kapitalanforderungen belegt werden.3) Dabei geht es nicht mehr darum, externe Kosten zu internalisieren, sondern Ansteckungswege einzudämmen. Höhere Kapitalanforderungen für Beziehungen zu größeren Instituten setzen Anreize, eher mit kleineren zu kontrahieren. Das Kappen der Ansteckungskanäle zwischen Instituten bedarf aber in erster Linie Anpassungen bei der Abwicklung von Geschäften. So kann zum Beispiel das Nutzen zentraler Kontrahenten für die Abwicklung von Finanztermingeschäften die Folgen eines Kontrahentenausfalls minimieren.

Fußnoten

1)OECD. Emerging Risks in the 21st Century. OECD publications, 2003.

2)Vgl. M. Hellwig. Systemische Risiken im Finanzsektor. Schriften des Vereins für Socialpolitik, zugleich Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Beiheft 7, 261: 123-152, 1998.

3)Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht: Strengthening the Resilience of the Banking Sector. Juni 2009.

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