Leserbrief

Value at Risk oder die MgM-Methode - eine Antwort

Lieber Herr Professor Singer, Sie schreiben sehr persönlich. Die "Methode gesunder Menschenverstand" (siehe ZfgK 22-2013, Seite 1154 - Red.) ist auf die Person des Menschen mit all seinen Erfahrungen abgestellt. Erlauben Sie deshalb bitte, dass ich Ihre Meinung mit meinen persönlichen Erfahrungen kontrastiere.

Leitbild der Wissenschaft: Nie werde ich meine erste Physikstunde vergessen. Der damals als "Professor" titulierte junge Studienrat hatte ein Ei mitgebracht und forderte uns auf, die Oberfläche dieses Eies zu schätzen. Wir mussten zunächst ein Quadrat auf ein Blatt Papier in der Größe zeichnen, in der wir die Oberfläche des Eies schätzten. Anschließend wurde ein großes "Brain-Storming" (hieß damals anders) gestartet, indem wir verschiedene Methoden ausdachten, mit denen man die Fläche bestimmen konnte. Warum erzähle ich das? Erstens, weil unser "gesunder Menschenverstand" die Oberfläche völlig falsch geschätzt hatte und jeder Schüler mal mit zu großer, mal mit zu kleiner Fläche deutlich daneben lag. Zweitens, weil wir damit den Leitsatz jeder Wissenschaft verstanden haben: "Messen, was messbar ist - und messbar machen, was nicht messbar ist" (Galileo Galilei).

Vielleicht noch ein Beispiel aus dem "physikalischen" Alltag zum "gesunden Menschenverstand": Lassen Sie bitte Testpersonen aufzeichnen, welchen Weg eine flach am Tisch liegende Münze nimmt, die zunächst mit Schwung im Kreis geführt und dann losgelassen wird. Die meisten Menschen glauben, sie würde sich weiter auf gekrümmter Linie fortbewegen.

Die Situation in der Betriebswirtschaftslehre: Die große Frage war schon in meinem Studium der Mathematik und ist es noch heute als Berater von Banken und Sparkassen, ob das Programm der Naturwissenschaften auch in den Sozialwissenschaften und damit letztlich auch der Bankbetriebslehre Erfolg versprechend ist. Denn im Gegensatz zur Messung der Oberfläche des Eies in meiner Physikstunde, treten in den Sozialwissenschaften viele Probleme auf, die ich gerne mit Ihnen gemeinsam rekapituliere:

1. Manche werden gar nicht messen wollen: Wer als Spielsüchtiger mit Selbstüberschätzung nicht einsehen will, dass das Risiko in bestimmten Grenzen gehalten werden muss, wird nie die Messung des Risikos akzeptieren. Er glaubt ja "mit gesundem Menschenverstand" daran, dass es zumindest jetzt noch nicht eintritt. Er wird zu seinem Schutz behaupten, das Risiko sei gar nicht vernünftig messbar, weil "jeder Fall anders zu beurteilen ist".

2. Oft wissen wir gar nicht, was wir messen sollen und welche Messung uns bei unseren Entscheidungen mehr hilft: Diejenigen, die Bilanzen gerne "frisieren", werden den Risikobegriff lieber an der Bilanz und GuV festmachen. Wer wie ich an die wirklichen Vermögenswerte denkt, für den ist ein Risikobegriff auf Basis der Performance richtig.

3. Dann gibt es endlosen Streit darüber, wie bestimmte Begriffe in Maßgrößen umzusetzen sind. Das im Bankwesen so wichtige "Risiko" kann in unterschiedlichster Weise verstanden und entsprechend definiert werden.

4. Selbst wenn man sich schon ziemlich einig ist, dass es bei Banken um ein Risikomaß gehen muss, das aussagt, dass mit vorgegebener Wahrscheinlichkeit ein bestimmter Verlust nicht überschritten werden darf, gibt es noch ausreichend Diskussion um die konkrete Festsetzung. Hier sei an die Kontroverse "Value at Risk" gegen "Conditional Value at Risk" erinnert. Hier gehe ich mit Ihnen, Herr Professor Singer: Vieles ist an den Haaren der Theorie herbeigezogen und dient nur der Profilierung der Beteiligten. Einfachheit sollte - wenn sie ausreichend informiert - Trumpf sein.

5. Wenn wir uns dann endlich einig sind, dass der VaR ein aussagekräftiges und für Entscheidungen brauchbares und einfaches Risikomaß darstellt, fängt das Problem erst richtig an: Was beim Ei die Oberfläche ist und dass Quadratzentimeter ein Maß für die Oberfläche sind, ist klar. Wie aber soll die Messung konkret vor sich gehen?

Gerade im letzten Punkt ist in der Bankbetriebslehre bei der Risikomessung noch viel zu tun. Dazu nur die Aufzählung der Stichworte: Vergangenheitsanalyse oder Szenarien oder Kombination der beiden Methoden? Wenn Vergangenheit, wie weit zurück? Vertreten wir die Meinung, dass zum Beispiel der Euro-Stoxx 50 immer das gleiche Risiko besitzt (einfache statistische Modelle) oder gehen wir davon aus, dass das Risiko situationsabhängig schwankt (Archund Garch-Modelle)? Welcher Planungshorizont soll bei der Risikomessung angewandt werden? Sind Korrelationen konstant oder verändern sie sich ebenfalls? Ist in Krisensituationen alles anders oder ist die Krise nur das nun realisierte, schon immer vorhandene Risiko? Und so weiter ...

Aus Fehlern lernen, aber nicht kapitulieren!: Mathematiker und Physiker müssen in ihrer Ausbildung ebenso wie Bankbetriebswirte lernen, die angesetzten Prämissen ihrer Modelle kritisch zu hinterfragen. Blindes Vertrauen in Modelle ohne Kenntnis der Anwendbarkeit und Zuverlässigkeit ist der Anfang vom Untergang. Hier stimmen wir überein, Herr Professor Singer!

Was ich aber nicht verstehen kann, ist die Kapitulation vor den aufgezeigten Schwierigkeiten und die Rückkehr der Bankbetriebslehre zu einer Sammlung von Fällen, die wir im Nachhinein so interpretieren, dass die Methode "MgM" passt. Auch wenn ich an vielen Stellen die Meinung vertrete, dass Komplexitätsreduzierung in vielen Geschäftstätigkeiten der Banken notwendig ist, so bleibt das Bekenntnis zur bestmöglichen Messung der Risiken unumstößlich.

Wir sollten vielmehr die Forschung in Theorie und Praxis intensivieren und uns auf einheitliche Standards einigen. Aus begangenen Fehlern sollten wir durch Verbesserungen der Methoden lernen. Missbrauch und "Hinbiegen" von Methoden sollten kritische Aufseher erkennen und unterbinden. Wir sollten den Maßgrößen nicht blind vertrauen, aber auch nicht die Meinung vertreten, sie seien "nur für die Aufsicht".

Eines sollten wir auf keinen Fall tun: Ohne den Versuch der möglichst guten Messung unserem angeblich so gesunden Menschenverstand blind vertrauen.

Dr. Christian Sievi, Partner, Die Einfache Bank-Beratungsgesellschaft mbH, Hannover

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