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Risiko und Risikomanagement

Nach dem Ausbruch der Finanzkrise äußerte ein bekannter Investmentbanker, dass die Bankenbranche im Risk-Taking voll versagt hätte. Dabei sind die Risikoerkennung, das Risk Controlling und das Risikomanagement wesensimmanente Aufgaben einer Bank. Hat man sich zu stark auf Risikomessmodelle wie Value at Risik, Raroc, Rorac, Rarorac und Stresstests verlassen? Typisch für das traurige Niveau des Risikomanagements ist die Ermittlung des Value at Risk der UBS: In den 18 Monaten vor Krisenausbruch lag deren VaR nie höher als 728 Millionen Schweizer Franken. Ab Mitte 2007 addierten sich bis zum ersten Quartal 2009 die Verluste im Fixed Income auf 58 Milliarden Schweizer Franken. Für toxische Wertpapiere im Bestand der UBS wurde der VaR nicht mehr ermittelt.

Gerd Gigerenzer lädt in seinem Buch ein, sich intensiver mit dem Risiko an sich zu befassen, denn der Mensch geht täglich, ob im Privatleben, als Politiker oder als Banker Risiken ein. Seine Forderung lautet: Menschen müssen fähig sein "... mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können ...". Er konstatiert, dass den meisten Menschen die Risikokompetenz fehle. Diese Problematik erklärt er anhand der Regenwahrscheinlichkeit: Verbale Äußerungen ("Morgen wird es regnen", "Es ist möglich ...") wurden durch numerische Exaktheit verzerrt. "Aber größere Exaktheit hat nicht zu größerer Klarheit über die Bedeutung der Nachricht geführt". Diese Aussage lässt sich auf die im Kreditgewerbe und in der Bankenaufsicht übliche Risikomessung übertragen: Die mathematischen Modelle wurden nicht von den Entscheidungsträgern verstanden, abgesehen davon, dass sie die komplexe Wirklichkeit nicht abbilden konnten. Der Verantwortliche von AIG Financial Products (London) äußerte 2006, dass er sich nicht vorstellen könne, aus der Risikoübernahme von verbrieften Immobilienkrediten jemals einen US-Dollar verlieren zu können. Die von ihm genutzten Modelle wurden von einem Mathematik-Professor aus den USA entwickelt.

Gigerenzer bezweifelt auch die Fähigkeit der Experten, Risiken richtig zu interpretieren, was er an der Pillenangst erklärt. Journalisten würde ebenfalls diese Fähigkeit fehlen, außerdem sind sie an Horrormeldungen interessiert und stellen Risiken oft falsch dar. Seine pessimistische Einschätzung, dass Experten eher ein Teil des Problems sind als dessen Lösung, lässt sich ohne Schwierigkeiten auf die Bankenbranche anwenden. Übertragen könnte man seine Bezeichnung "risikoinkompetente Institutionen" auf Parlamente, Ministerien, Bankenaufsicht, Banken und selbstverständlich auch auf die Universitäten.

Den Bankbezug weisen vor allem die Abschnitte 5 "Alles was glänzt" und 11 "Banken, Kühe und andere gefährliche Dinge" auf. Dort, im 5. Abschnitt, bezweifelt Gigerenzer die Expertenfähigkeit in der Vorhersage von Kursen und Preisen. Lustig ist der Hinweis auf Markowitz, der für sein Modell den Preis in Gedenken an Alfred Nobel erhielt, in seinen eigenen Investments nach der einfachen Faustregel 1/N vorging. Er kritisiert auch die Bankkunden, wenn deren Vertrauen weniger auf der Kompetenz der Berater, sondern auf der persönlichen Beziehung und auf Äußerlichkeiten basiert. Bankkunden sollten Finanzprodukte nur dann kaufen, wenn sie sie verstehen, aber selbst Bankvorstände verstanden die verbrieften Immobilienkredite oder hoch komplexe Zertifikate nicht, kauften sie aber für ihr Depot A beziehungsweise verkauften sie an Kunden. Im 11. Abschnitt kritisiert er die Risikointelligenz im Bankgewerbe, aber auch die von Politikern und der Aufsicht. Nach Gigerenzer heißen des Bankers neue Kleider "Risikomodelle, und versprechen eine Sicherheit, die es nicht gibt." Das ist ein Seitenhieb gegen die Risikomanagement-Lobby und die Aufsicht. Die Value-at-Risk-Konzeption verwirft er, da "die Welt des Geldes ... eine ungewisse Welt ist, nicht eine bekannter Risiken".

Ablehnend verhält er sich gegenüber der komplexen und langatmigen Basel-II-Konzeption. Deren Länge beläuft sich auf 347 Seiten, trotzdem brach die Finanzkrise aus, das Systemrisiko übertrug sich auf die Banken zahlreicher Staaten. Das Basel-III-Konzept erstreckt sich über 1 000 Seiten. Nach Auffassung von Gigerenzer verstehen Notenbanker und Politiker diese Konzeptionen allenfalls rudimentär. Deshalb ist seiner Meinung zufolge das Banksystem immer noch fragil. Der Truthahn-Illusion zufolge lässt sich ein Risiko nicht auf Daten der Vergangenheit berechnen: Der Truthahn stuft die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, immer niedriger ein, je länger er lebt - bis der Thanksgiving-Day kommt. Dieses Ereignis lässt sich nicht aus dem davorliegenden Zeitraum ermitteln - der Truthahn dürfte es dann gelernt haben! Und die Banker?

Gigerenzer lehnt die komplexen Risikomodelle ab, da sie seiner Auffassung nach in einer instabilen und global vernetzten Welt mit zahlreichen Risikofaktoren unbrauchbar sind. Von solchen Modellen profitieren nur EDV-Experten, Mathematiker und Physiker sowie Beratungen bei der Mitwirkung an deren Implementierung. Stattdessen wären "einfache Faustregeln" vorzuziehen, sie sind sozusagen alternativlos. Als Beispiel nennt er "Vermeide einen Verschuldungsgrad über 10:1".

Kern der Ausführungen sind die von ihm dargestellten Unterschiede zwischen dem Risiko, der Gewissheit und der Ungewissheit - und deren Verwendung im täglichen Sprachgebrauch. Die für das Kreditgewerbe typischen Ungenauigkeiten in dem Verständnis dieser Begriffe sind die Ursache, warum "die Risikozahlen praktisch keine Finanzkrise vorhersagten ...". Nach Gigerenzer sind sie, das heißt die Risikokennzahlen, nicht nur unbrauchbar, sondern "selbst eine mögliche Gefahr und Ursache von Finanz-Kernschmelzen". In der Terminologie von Aufsicht und Bankenbranche wurde Ungewissheit mit bekannten Risiken verwechselt, bekannte Risiken wurden trotz Truthahn-Illusion als berechenbar umgedeutet und mit absoluter Gewissheit verwechselt, was nach Gigerenzer eine Null-Risiko-Illusion erzeugt. Der "Schwarze Schwan" 2007/08 offenbarte das Versagen des bisherigen Risikodenkens. Dennoch ist dieses Denken weiterhin dominant - nach Gigerenzer sind deshalb weitere Finanzkrisen vorgezeichnet.

Gigerenzer plädiert auch für Bauchentscheidungen und für die Intuition in komplexen Entscheidungssituationen (6. Abschnitt). Vielleicht sind Familienunternehmen seiner Meinung nach erfolgreicher im Vergleich zu börsennotierten Großkonzernen, weil sich die geschäftsführenden Gesellschafter dort auf Bauchgefühle verlassen dürfen: "Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass angehende Manager an ihrer Universität nichts über Intuition lernen, obwohl Bauchentscheidungen im Geschäftsleben vorherrschend sind". Das ist ein gewaltiger Tritt an das "Schienbein" der wissenschaftlichen Entscheidungstheorie. Sogar erfolgreiche Unternehmer hoben in einer von Gigerenzer dargestellten Podiumsdiskussion hervor, "dass ihnen vieles von dem, was sie in ihrem MBA-Studium gelernt hatten, wenig genutzt habe".

Dieses Buch kann helfen, Risikointelligenz und Risikokompetenz zu entwickeln. Auch hilft es, die bisherigen Fehler im Risikomanagement, davon gibt es eine große Menge, zu erkennen und zu beheben. Vor allem der Bankenbranche, der Aufsicht - insbesondere EBA, BaFin und EZB -, dem Bundesfinanzminister wie auch Landesfinanzministern, sofern sie noch im Verwaltungsrat ihrer Landesbanken mitspielen dürfen, ist es zu empfehlen. Weitere Finanzkrisen können wir uns sicher nicht mehr leisten. Der Grundfehler im Kreditgewerbe der vergangenen Jahrzehnte war das Risikomanagement Mathematikern und Physikern zu überlassen. Deren Denke ist nach Gigerenzer im Kreditgeschäft allenfalls eingeschränkt brauchbar, mitunter ist sie sogar eine Gefährdung des Kreditinstituts oder eine Ursache für Systemkrisen.

Prof. Dr. Jürgen Singer, Universität Leipzig

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