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The Black Swan

Nassim Nicholas Taleb: "Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse.", Carl Hanser Verlag, München 2008, übersetzt von Ingrid Proß-Gill, 442 Seiten, gebunden; 24,90 Euro; ISBN 978-3-446-41568-3

Bis 2006/07 herrschte große Euphorie in der Financial Community. Risiken schien es nicht mehr zu geben im Vertrauen auf das ausgefeilte Risikomanagement, die ach so tollen Risikomesssysteme (beispielsweise Credit-Metrics von J. P. Morgan) und den "Magier" Alan Greenspan und dessen Geldpolitik. Das Erwachen ab Mitte 2007 war grauenhaft. Heute ist die weltweite Financial Community regelrecht aus dem Tritt, tiefe Unsicherheit grassiert, immer neue Risiken entpuppen sich: "Nicht ist unmöglich", betrachtet man beispielsweise HRE, Citibank, RBoS, UBS oder AIG.

Die Publikation von Nassim Taleb trifft den Zeitgeist. Sie ist eine Abrechnung mit der früher dominierenden Auffassung, Experten hätten die Risiken voll im Griff! Die Bankkaufleute haben das Bankgeschäft an die Juristen und die Risikoeinstufung an Mathematiker fahrlässig abgegeben. Weder ausgeklügelte Verträge, klein gedruckt und mehrere hundert Seiten lang, noch ausgefeilte Mess- und Controllingsysteme haben große Institute, Fonds und Versicherungen vor dem Kollaps gerettet: Der Markt weiß nicht alles, der Markt richtet nicht mehr alles, manchmal richtet er viel Unheil an, jetzt wird der früher belächelte Staat um Hilfe gerufen.

Der Kern der Veröffentlichung ist die kritische Auseinandersetzung mit dem "Zeitgeist" des Risikomanagements, alle Risiken messen und dementsprechend beherrschen zu können. Wie wurden deutsche Kreditinstitute mit Basel II, mit RaRoC, RoRaC, RaRoRaC, Stresstests, Value-at-Risk und sonstigem Hokuspokus gepeinigt? Jahrelang blockierten sich Institute mit der Selbstbeschäftigung Basel II. Und jetzt will man sogar operationelle Risiken messen! ? Was für ein Humbug: (Seite 223) "über manche Eigenschaften von Systemen könne man zwar sprechen, doch sie ließen sich nicht berechnen". Deshalb erscheint die Abrechnung von Nassim Taleb gerade zur richtigen Zeit: Das Kreditgewerbe muss sich abschminken, alle Risiken messen zu können. Erstens erwiesen sich die Pseudo-Experten als unfähig, zweitens sind viele Risiken nicht messbar.

Die Ausführungen von Nassim Taleb sind etwas langatmig, aber flüssig zu lesen. Im Gegensatz zu manchen Dissertationen macht das Lesen aber regelrecht Spaß. Mit Schrecken erinnere ich mich an eine Dissertation über Value-at-Risk: Drei Seiten verbale Ausführungen, dann fast 200 Seiten hoch komplexe mathematische Ergüsse! Ist das der Inhalt der heutigen Ökonomie? Naja, Nobelpreise erhält man dafür! Und jetzt gibt es das Finanzdesaster als "Nachspeise"!

Kritisch befasst sich Nassim Taleb mit der Annahme der Gleichverteilung von Risiken (Gauß'sche Glockenkurve). Auch äußerte er Zweifel an manchen Formeln, selbst wenn sie von Nobelpreisträgern entwickelt worden sind. Insbesondere kritisiert er, dass zu wenig unerwartete Risiken einbezogen würden. Solche Risiken würden wesentlich öfter eintreten als bislang angenommen. Wenn allerdings in Zeitungen, in denen "Der schwarze Schwan" besprochen wird, als Beispiel solch unerwarteter Risiken die US-amerikanische Subprime- und Immobilienblase angeführt wird, dann ist zu widersprechen. Keine Krise ist derart frühzeitig von Marktkennern präzise prognostiziert worden ist.

Einer der ersten und kontinuierlichen Warner war Robert Shiller, der bereits Jahre vorher darauf hingewiesen hat. Schon im Jahr 1999 hat er den "irrational exuberance" des Internet-Wahns aufgezeigt. Viele Krisen sind nicht urplötzlich auftretend und unerwartet. Was fehlt, sind Fähigkeit und Willen, Gefahrensignale rechtzeitig zu erkennen und präzise zu deuten. Stattdessen flüchtet man nach Nassim Taleb in die "Pseudo-Wissenschaft" der quantitativen Wirtschaftswissenschaft (siehe dazu Seite 333). Zu wenig wird die verhängnisvolle geistige Urheberschaft für den Irrweg der "modernen" Wirtschaftstheorie betrachtet.

Nach Taleb sind Merton, Markowitz, Scholes, Ross, Sharpe und andere mitschuldig an dem Desaster, das derzeit abläuft. Deren "wissenschaftlichen" Erkenntnisse bezeichnet er als "heiße Luft", deren Modelle als "quacksalberische Heilmittel" (Seite 333). Merton bewertet er als "Paradebeispiel für Obskurantismus mit akademischem Stempel" (Seite 340). Wesentlich ungefährlicher statt eigene Meinungen zu bilden, erscheint es zahlreichen Akteuren in der Financial Community mit der "Lem-ming-Herde" mitzulaufen! Deshalb werden die Akteure der Financial Community als "Lemming Banks" bezeichnet.

Wozu Nassim Taleb auffordert, ist folgendes Verhalten: Man sollte sich wesentlich mehr vorstellen als man sich vorstellen möchte! Wenn man dazu unfähig oder zu bequem ist oder die Verantwortung aus Angst an Diplom- Mathematiker abzuwälzen vorzieht, dann wird man von "unerwarteten" Ereignissen getroffen. Die heutige Finanzkrise, ausgehend von den USA, ähnelt sehr der japanischen Bubble Economy. Lediglich die Auswirkungen sind infolge der Globalisierung größer und weltweit verheerend. Unerwartet war da überhaupt nichts!

Erheiternd ist die Verbindung der Ausführungen von Nassim Taleb mit den Aussagen von Wirtschaftsnobelpreisträgern, so zum Beispiel Solow: "Ökonomen sind keine guten Prognostiker. Aber Vorhersagen gehören auch nicht wirklich zum Geschäft der Zunft". Bis jetzt dachte ich, deren Berechnungen dienten zur Vorbereitung auf die Zukunft. Da hab ich mich offensichtlich getäuscht. Auch Spence äußerte sich skeptisch: "Wir Ökonomen müssen uns stärker in Demut üben. Das Gedankengut der letzten 25 Jahre ist obsolet geworden". Persönlich wurde ich am 24. Dezember 2008 von einem unerwarteten Ereignis getroffen: Ich erhielt als Weihnachtsgeschenk zwei Exemplare dieses Buches - das war nicht zu erwarten!

Prof. Dr. Jürgen Singer, Universität Leipzig, Leipzig

Die englische Originalausgabe ist im Random House, Inc., New York erschienen: "The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable", Nassim Nicholas Taleb, Hardcover, 400 pages, 2007; US-Dollar 27,00; ISBN 978-1-4000-6351-2

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