Aufsätze

Die gesellschaftliche Bedeutung und Verantwortung der Börse

Stark im Fokus sind große Börsenorganisationen heute als börsennotierte Gesellschaften mit dem Auftrag, für ihre Aktionäre Mehrwert zu schaffen. Zudem werden Börsen in dieser Zeit der rasanten Entwicklung der globalen Kapitalmärkte bisweilen reduziert auf ihre Rolle als hocheffiziente Technologieplattformen, auf denen Wertpapiere gehandelt werden können. Selbstverständlich sind diese beiden Rollen von Börsen aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Eine Börse ist aber weit mehr als das: Sie garantiert Investoren und Emittenten eine effektive und effiziente Kapitalallokation. Zentral dabei sind die Fairness und Transparenz im Handel mit Wertpapieren (Investorenschutz) und ein zuverlässiger Betrieb des Systems (Systemschutz). Hinzu kommen Angebote für das Risikomanagement.

Dienende Rolle des Finanzsektors

Im Folgenden wird anhand von sieben Punkten aufgezeigt, weshalb eine Börse eine für Wirtschaft und Gesellschaft zentrale Schaltstelle ist. Eine Börse verkörpert durch ihre Tätigkeit das, was Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die "dienende Rolle des Finanzsektors" nennt.

Investorenschutz durch Handelsüberwachung: Ein Markt ist nicht auf naturgegebene Weise integer: Fairness und Transparenz als tragende Säulen der Integrität mussten auch in einem börslichen Markt über ein adäquates Regelwerk entwickelt werden. Marktmanipulation geht sogar zurück auf die Antike: Zeitgenössische Quellen berichten von Marktmissbrauch durch Verwendung von Derivaten auf die Kapazitäten von Olivenpressen. Mit anderen Worten: Die Idee, einen Markt zu manipulieren, ist ebenso alt wie die Märkte selbst. Um Manipulation zu verhindern, braucht es Regeln, die allen Teilnehmern bekannt sind, eine "Polizei" und Aufsichtsbehörden, die die Einhaltung dieser Regeln überwachen und sanktionieren, sowie Börsenorganisationen, die diese Regeln implementieren und permanent weiterentwickeln.

Gerade weil an der Börse als Zentrum des Wertpapierhandels große Vermögenswerte in kürzester Zeit den Besitzer wechseln, ist es naheliegend, dass der Betreiber des Marktes auch die primäre Überwachungsfunktion wahrnimmt. Die Transparenz und die lückenlose Nachvollziehbarkeit des Preisbildungsprozesses sowie die hohe Sachkompetenz des Marktüberwachers, der heute mit den modernsten Instrumentarien der Informatik arbeitet, sind sehr wirkungsvoll. Sie wirken abschreckend auf all jene, die mit unlauteren Absichten handeln.

Neutralität gegenüber allen Marktteilnehmern: Aus der Neutralität einer Börse leitet sich das Gleichbehandlungsprinzip ab: Alle Marktteilnehmer (Investoren, Intermediäre und Emittenten) werden bezüglich Rechten und Pflichten sowie Information und Marktzugriff gleichbehandelt. Gleichbehandlung steigert die Marktqualität.

Börsen und außerbörsliche Plattformen: schiefe Ebene im Wettstreit

Im Gegensatz zu Börsen dürfen außerbörsliche Handelsplattformen den Zugang beschränken beziehungsweise interessierten Teilnehmern den Zugang verweigern. Das Regelwerk, das die außerbörslichen Handelsplattformen berücksichtigen müssen, ist nicht zu vergleichen mit den - völlig zu Recht - strengen Regularien einer Börse. Transparenz ist vielfach überhaupt nicht vorhanden. Es ist zu hoffen, dass die Regulatoren und Gesetzgeber die momentan existierende schiefe Ebene im Wettstreit zwischen Börsen und außerbörslichen Plattformen doch noch in ein ebenes Spielfeld verwandeln.

Qualitativ hochstehende Preisbildung: Zentral ist auch die permanente, überwachte und transparente Preisbildung an einer Börse nach genau festgelegten Regeln, mit anderen Worten: Die dauerhafte Verfügbarkeit eines liquiden Marktes oder das Angebot von Liquiditätspools. Bei aller Sorge der Anleger über ungünstige Entwicklungen an der Börse wird eines bisweilen vergessen: Die Tatsache, dass an einer Börse zu jeder Zeit und für jedes Wertpapier für Käufer und Verkäufer ein Geldbeziehungsweise ein Briefkurs vorhanden ist, stellt einen hohen Wert dar. Genau hier lag das Problem bei den außerbörslichen Märkten in amerikanischen Hypothekarpapieren auf dem Höhepunkt der Finanzkrise: Diese Märkte hatten schlichtweg aufgehört zu funktionieren. In Notsituationen kann es für Geldinstitute überlebensnotwendig sein, Wertpapiere - auch mit Verlust - sofort zu verkaufen. Wesentlich schlimmer als ein ungünstiger Markt ist die Absenz eines Marktes, denn die Börse ist zum Handeln da.

Reduktion des Risikos: Die Börse hat aber nicht nur den Vorteil, dass sie einen fairen und transparenten Markt anbietet, organisiert, überwacht und weiterentwickelt, sie leistet auch Wesentliches zur Reduktion der Risiken von Marktteilnehmern. Durch die Schaffung von zentralen Verrechnungsstellen schützen die Börsen ihre Teilnehmer und ihre individuellen Anleger vor dem Risiko eines Ausfalls von Handelspartnern. Und im Endeffekt schützen sie mit diesen Clearing-Häusern auch das System.

Auch auf der Ebene des elektronischen Handels stellen führende Börsen zumindest in Europa etliche Sicherheitsmechanismen bereit, wie etwa automatisch ausgelöste Volatilitätsunterbrechungen bei starken Kursschwankungen eines Wertpapiers. Was passieren kann, wenn derartige Schutzmechanismen fehlen, zeigte sich bei dem sogenannten "flash crash" in den USA, wo es am 6. Mai 2010 zu einer dramatischen Kurserosion kam. Leitindizes wie der Standard & Poor's 500 oder der Dow Jones Industrial Average verloren innerhalb von Minuten sechs bis neun Prozent. Inzwischen wurden die amerikanischen Handelsregeln und Sicherheitsmechanismen massiv verschärft.

Große Bedeutung für die Realwirtschaft - auch für den Mittelstand

Finanzierung der Realwirtschaft: Börsen sind zudem prädestiniert für die Organisation, den Betrieb und die Überwachung eines effizienten und integren Marktes. Daneben haben Börsen eine zentrale Bedeutung für die Realwirtschaft: Durch eine Aktienemission kann sich ein Unternehmen - vor allem auch ein mittelständisches Unternehmen - die notwendige Kapitalbasis verschaffen, um Expansionspläne zu realisieren. Ein Börsengang erweitert die Finanzierungsbasis der Unternehmen und weitet dadurch deren Handlungsspielraum aus. Dies nützt letztlich nicht nur den einzelnen Gesellschaften, sondern der Gesamtwirtschaft: Volkswirtschaften, in denen die Börse eine Schlüsselrolle in der Kapitalallokation spielt, können auch die für den Strukturwandel benötigten Investitionsmittel leichter mobilisieren und somit ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit besser behaupten.

Anlagemöglichkeiten für Privatinvestoren: Umgekehrt ist die Existenz von Publikumsgesellschaften ein großer Vorteil von Privatinvestoren, und zwar unabhängig von deren Vermögen. Durch den Kauf von Aktien oder aktiendenominierten Anlagefonds kann der einzelne Anleger direkt in eine Firma oder Branche investieren, von deren Zukunft er überzeugt ist.

Internationalisierung und Regulierung: Diese Funktionen für die Finanz- und die Realwirtschaft erfüllen Börsen heute in einem internationalen Umfeld: Ihre Teilnehmer handeln grenzübergreifend, und auch die Kapitalmarktregulierung erfolgt letztlich international - sei es durch die Aufsichtsbehörden von Wirtschaftsblöcken wie der EU oder im Fall des außerbörslichen Derivatehandels bereits auf Basis globaler Koordinierung etwa auf den G20-Treffen. Dadurch sind Börsen zugleich Treiber der wirtschaftlichen Globalisierung.

Auf und Ab der Aktienkultur in Deutschland

Aus diesen Funktionen ergibt sich als zentraler Zweck börslich handelbarer Wertpapiere die Bildung von Ersparnissen, auch für die Altersvorsorge. Allen Unkenrufen zum Trotz haben aktiendominierte Portfolios in einem langen Anlagehorizont im Klartext über Jahrzehnte - die bessere Rendite als anleihendominierte. Wesentlich ist aber auch hier: Bei Anlagen in börsengehandelten Wertpapieren kann ein Depot bei Bedarf in sehr kurzer Zeit effizient umgeschichtet werden.

Dennoch besteht in Deutschland weiterhin Nachholbedarf für die Aktie als Finanzierungs- und Anlageinstrument. Es gibt einen Grundstock von Anlegern, die der Aktie oder dem aktiendenominierten Anlagefonds die Treue halten, doch insgesamt ist die Aktien- und Anlagekultur noch längst nicht so stark ausgeprägt wie etwa in der angelsächsischen Welt. Dies zeigt eine Betrachtung des Aktienbesitzes in der deutschen Bevölkerung auf Anhieb. In der jüngsten Kurzstudie weist das Deutsche Aktieninstitut (DAI) 8,7 Millionen Aktienbesitzer in der Bevölkerung Deutschlands nach. 2,5 Millionen (oder 3,8 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren) sind reine Aktionäre, 4,6 Millionen (7,1 Prozent) sind reine Aktienfondsanleger und nur 1,6 Millionen (2,5 Prozent) halten beide Titelkategorien.

Damit verzeichnet der Aktienbesitz in der deutschen Bevölkerung zwar wieder eine steigende Tendenz, ist aber gleichzeitig noch weit entfernt von den 12,9 Millionen Aktienbesitzern im Jahr 2001. Diese Zahlen - die heutigen wie auch diejenigen aus dem Dot-Com-Jahr 2001 - sind deutlich unter den Quoten, welche die Aktienbesitzer in Großbritannien oder in den USA ausmachen. Hier verzeichnete man in Spitzenjahren Anteile von 25 bis 50 Prozent. Diese Zahlen stehen aber zugleich für das Potenzial, das der Börsenhandel in Deutschland langfristig hat.

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