Leitartikel

Stabilitätspolitik 2008: Folgen den Worten auch Taten?

"Was wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean." Diesen Satz von Isaac Newton (1643 bis 1727), dem großen englischen Physiker, Mathematiker und Astronomen, lasen wir im Internet auf NZZ-Online am "Schwarzen Montag" (21. Januar 2008) mit dem größten Aktienkurseinbruch seit September 2001 infolge der globalen Kreditkrise mit Epizentrum USA und fanden ihn passend über den Börsentag hinaus. Wir reichen den Spruch provozierend an die Verantwortlichen für Preis- und Finanzstabilität als Frage weiter, weil aktuell Inflations- und Rezessionsrisiken die breite Öffentlichkeit konträr verunsichern und auf eine wegweisende Antwort von einer glaubwürdigen Geldpolitik warten. Was hat Vorrang: Inflations- oder Rezessionsbekämpfung?

Die Antwort ist auch in dem am stärksten globalisierten Finanzmarkt nicht einheitlich. Die Zentralbanken schätzen die Risiken unterschiedlich ein: Die angelsächsischen Zentralbanken mit der Fed/USA als Leader sehen die Konjunkturrisiken im Zuge der aktuellen Kreditkrise mit größerer Besorgnis, während die EZB mit der Deutschen Bundesbank ihr Mandat für Preisstabilität die Inflationssorgen bei noch robuster Konjunktur mehr beunruhigt, sodass Fed und EZB bis zuletzt in unterschiedliche Zinsrichtungen blickten. Aber die Informationen und die Datenlage für die geldpolitischen Entscheidungen sind komplex und diffus und setzten der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik einem Stresstest aus.

Was kommt? Wir bleiben vorerst am Finanzplatz Frankfurt, mit Blick auf die Europäische Zentralbank und die Deutsche Bundesbank. Wir fragen nach verlässlichen Daten und hören auf Worte, denen Taten folgen sollten - besser müssen. Die Datenlage ist bekannt seit Dezember 2007 mit den Wirtschaftswachstums- und Inflationsprognosen 2008/2009 bei der EZB und der Deutschen Bundesbank. Aber diese Datenlage ist keine verlässliche Prognose für die Geldpolitik der EZB, weil sie von Annahmen ausgeht, die unsicher sind. Doch die Frage stellt sich den EZB- und Bundesbank- Prognosen: Droht wirklich eine neue Inflation? Die EZB- Projektionen sind stabilitätsorientiert: Die Eurozone wächst 2008/2009 (2007) beim realen BIP im Mittelwert um 2,0/2,1 (2,6) Prozent nahe dem stabilitätsgerechten Potenzial, und die Inflation (HVPI) wird mit 2,5/1,8 (2,1) Prozent leicht über der EZB-Stabilitätsnorm ("nahe, aber unter zwei Prozent") prognostiziert, was die EZB in Richtung Zinser höhung bis zuletzt blicken lässt. Wie groß ist die Inflationsgefahr 2008/2009 im Euroraum? Im Januar-Monatsbericht entwarnt die EZB etwa mit Blick auf den auslaufenden Basiseffekt bei der HVPI-Inflation; diese könnte allein dank Basiseffekt im 12-Monatszeitraum bis November 2008 um rund einen Prozentpunkt sinken, womit die EZB-Stabilitätsnorm von "nahe, aber unter 2,0 Prozent" in Sicht wäre, wenn neue Ölpreis- und Nahrungsmittel-Preisschocks ausbleiben und eine Lohn-Preis-Spirale nicht in Schwung kommt, womit Jean-Claude Trichet offen warnt, diskret die Lohnforderungen in Deutschland im Fokus.

Und wie sieht die Deutsche Bundesbank die Risiken für Wachstum und Preisstabilität? Auch hier werden die Risiken für die Preisstabilität deutlicher hervorgehoben als die Risiken für das Wachstum, das sieht die Bundesbank für Deutschland wie die EZB für den Euroraum immer noch als robust und auf Potenzialpfad. Die Bundesbank schreibt im Dezember-Monatsbericht: "Das Preisklima hat sich im Laufe des Jahres sichtlich eingetrübt. Die Teuerungsrate (HVPI) dürfte im Durchschnitt 2008 wie schon 2007, in dem fiskalische Belastungen mit etwa 1,5 Prozentpunkten zu Buche schlugen, 2,3 Prozent betragen. Im Jahr 2009 könnte sie sich jedoch auf 1,5 Prozent ermäßigen, wenn die Rohölpreise den Markterwartungen folgend eher nachgeben, der Anstieg der Agrarpreise sich über die Mitte des Jahres 2008 nicht weiter fortsetzt und die Lohnpolitik den derzeitigen Preisauftrieb nicht zum Anlass für erhöhte Abschlüsse nimmt." Dass die Abstufung der HVPI-Teuerungsrate zwischen 2007/2008 und 2009 nicht noch deutlicher ausfällt, liegt nach der Analyse der Bundesbank daran, dass sich der stärkere Lohnkostendruck nach und nach in den Verbraucherpreisen niederschlagen wird. Im Verlauf des Prognosezeitraums rechnet die Bundesbank damit, dass die Inflationsrate bis in das Jahr 2008 hinein über 2,5 Prozent liegt, sie könnte sich in den Sommermonaten bis auf 2,25 Prozent ermäßigen.

"Über den weiteren Prognosezeitraum hin ist bei Abwesenheit erneuter Preisschocks unter den gegebenen Annahmen mit HVPI-Inflationsraten um 1,5 Prozent zu rechnen", so die hoffnungsvolle Bundesbank-Stabilitätsperspektive. Und wie handelt jetzt - mitten in der unsicheren Finanzmarktlage weltweit - die Geldpolitik im EZB-Rat mit diesen volatilen Annahmen für Wachstum und Inflation? Darüber rätseln nicht nur die Börsianer, auch die große Politik und die betroffenen Menschen. Global ist die Risikoeinschätzung noch nicht in eine einheitliche Richtung festzustellen: Die Fed hat weitere Zinslockerungen zur Vermeidung eines Konjunktureinbruchs in den USA oder gar Rezession signa lisiert und ist schon mit großen Schritten unterwegs, während die EZB die Inflationsrisiken bei noch robust auf Potenzialpfad eingeschätztem Wachstum immer noch im Auge hat, aber schon leiser warnt - etwa im Vergleich zu den deutlichen Stabilitätsworten von Jean-Claude Trichet vor Wochen beim bestätigten EZB-Leitzins von 4,00 Prozent. Bundesbank- Präsident Axel A. Weber wägt auch ab und warnt (nur noch) wie Trichet vor Zweitrundeneffekten und damit vor einer Lohn-Preis-Spirale: "Ein Preisschub, ausgelöst durch überhöhte Lohnabschlüsse, kann die Preisstabilität auf mittlere Sicht gefährden. Dem würden wir im EZB-Rat entschlossen entgegenwirken, denn stabiles Geld ist wichtig für die

Wirtschaft und unsere Gesellschaft", fast gleichlautend mit Jean-Claude Trichet, der bis zuletzt stolz auf die im Rahmen der EZB-Stabilitätsnorm von knapp zwei Prozent Inflationsrate fest verankerten Inflationserwartungen verweist - die aber nun auf 2,2 Prozent (Break-even-Inflationsrate bei indexierten Anleihen) gestiegen sind und die Stabilitätsnorm verletzen. "Drohen sich die Erwartungen oberhalb unserer Stabilitätsnorm zu verfestigen, würden wir dem entschlossen entgegentreten und gegebenenfalls präventiv handeln", so Bundesbankpräsident Weber. Also präventive Zinserhöhung gegen drohende Lohn-Preis-Spirale? Oder spricht doch schon/bald das Konjunkturrisiko dagegen, weil das Wachstum unter Potenzial gedrückt wird und so die Inflationsangst bald über den Preisbuckel beruhigt wird?

Also, was macht der EZB-Rat 2008? Wenn die Fed aus Angst vor Rezession wieder auf billiges und reichliches Geld umschaltet, wie nach dem New-Economy-Crash 2000, ändert sich die ökonomische Analyse für die EZB auch in Richtung Zinssenkung statt angedrohter Zinserhöhung? Die Klarheit muss bald an den Tag, es geht um das höchste Gut einer Geldpolitik in der Position der EZB mit der Bundesbank-Re putation, es geht um die Glaubwürdigkeit der Notenbank mit einem klaren Mandat für Preisstabilität, das aber auch Finanzstabilität als Voraussetzung und gleichzeitig als Verpflichtung braucht; diese Frage ist unbeantwortet, obwohl erkannt (seit dem Platzen der New-Economy-Börsenblase 2000). Damit sind wir auf dem Drahtseil der Geldpolitik angelangt, der Drahtseilakt trägt den Titel geldpolitische Kommunikation - und zugespitzt: Folgen den Worten auch Taten?

Diesen Drahtseilakt kennt Otmar Issing nach jeweils acht Jahren bei der Bundesbank und der EZB als Chefvolkswirt und heute Präsident des CFS (Center for Financial Studies der Universität Frankfurt) und Berater bei Goldman Sachs wie kein Zweiter, wenn er den Drahtseilakt der geldpolitischen Kommunikation mit Zitat aus Goethes "Faust" weltliterarisch schildert: "Im Anfang war das Wort", lässt Goethe seinen Faust mit der Übersetzung des Johannes-Evangeliums ringen: "Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, ich muss es anders übersetzen", und kommt nach "Sinn" und "Kraft" zum Schluss: "Im Anfang war die Tat", das bringt den Pudel zum Heulen und Bellen, Issing meint, weil das Tier die Spannung zwischen Inhalt und Form, zwischen Wirklichkeit und Botschaft spürt. Was besagt das für die heutige Politik, die sich, - je schlechter - umso besser verkaufen müsse? Issing bleibt bei Faust: "Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor." Für die Geldpolitik steht nach Issing die richtige Entscheidung im Zentrum, aber nicht am Anfang, voraus geht die angemessene Vorbereitung der Öffentlichkeit und der Märkte. Also doch Kombination von Vorbereitung und Vollzug? Aber dann müssen den klaren Daten auch überzeugende Taten folgen - und zwar kongruent und glaubwürdig in Passform.

Und hier steht die EZB aktuell vor einem harten Stresstest in punkto Glaubwürdigkeit, weil viele, zum Teil konditionierte Worte gesprochen worden sind, unklare Ankündigungen, denen nun passende Taten, geldpolitische Entscheidungen, folgen müssen. Die EZB ist stolz auf ihre 2-Säulen-Strategie. Issings Nachfolger im EZB-Direktorium im Bereich "Volkswirtschaft", Jürgen Stark, bekennt sich zur heutigen EZB-Kommunikation: "Die Herausforderung für die Kommunikation ist, dass die Wirklichkeit komplex ist. Wenn man dem gerecht werden möchte, bedarf dies komplexer Ansätze. Wir haben mit zwei unterschiedlichen Zeithorizonten zu tun. Die ökonomische Analyse ist auf kurze und mittlere, die monetäre Analyse auf mittlere und lange Frist ausgelegt." Stark gibt offen zu, dass die EZB noch an Modellen arbeitet, die ökonomische und monetäre Analyse besser verknüpfen soll, für Preis- und Finanzstabilität - und kann Jean-Claude Trichet dazu zitieren: "Um ein umfassendes Bild von den Auswirkungen der Finanzmarktentwicklungen auf die Bankbilanzen, die Finanzierungsbedingungen sowie Geldmengen- und Kreditwachstum zu erhalten, sind weitere Daten und Analysen erforderlich."

Aber die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik ist das höchste Gut einer Notenbank der Klasse EZB und Fed. Müssen also bei den noch so komplex deklarierten Entscheidungsbedingungen die geldpolitischen Beschlüsse verbal vorbereitet werden, dann kommt es immer noch auf die Passform von Entscheidungen mit den Vorbereitungen an. Das ist auch ein Drahtseilakt, wie das Spiel mit den Code-Wörtern aus dem Munde von Jean-Claude Trichet, die Finanzmärkte sammeln und speichern - a la "vigilant", "risk to price stability", "downside risk to growth" et cetera und in die Zinsprognosemaschine einfüttern. Er beinhaltet das Risiko des Absturzes für die Zinswette wie für die Glaubwürdigkeit der EZB-Geldpolitik. Dabei bleibt die EZB mit ihrer ökonomischen und monetären Analyse besser auf der Datenlage als die Fed, die offenbar - mit ihrem ausgedehnten Mandat auch für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung und nicht nur für Preisstabilität - das Beispiel der EZB im Auge hat, wenn der Fed-Chairman Ben Bernanke jetzt mehr öffentlich reden will, nachdem sein Vorgänger Alan Greenspan die Kommunikation eher diskretionär betrieben hatte.

Also: Worte und Taten müssen zusammenpassen, das ist die Basis der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik in Verantwortung von Preis- und Finanzstabilität. Und zurück zu Goethes Faust, der viel auf "Verstand" setzt, dazu der in Frankfurt lange wirkende Philosoph Arthur Schopenhauer: "Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand." Zum Nachdenken für die Geldpolitiker über den Tag hinaus. Hans Hutter

Noch keine Bewertungen vorhanden


X