Aufsätze

Szenarioanalysen im Kreditrisikomanagement

Die aktuelle Finanzkrise zeigt deutlich die Anfälligkeit des Bankensystems. Die Ursachen dieser Entwicklung werden kontrovers diskutiert. Fakt ist, dass bei vielen Banken das Risikomanagement versagt hat. Fehlentwicklungen am Markt wurden nicht frühzeitig erkannt beziehungsweise es wurde nicht angemessen reagiert. Dies lässt vermuten, dass die derzeit verwendeten Methoden, die überwiegend auf quantitativen Modellen basieren, mögliche extreme Entwicklungen nicht adäquat berücksichtigen beziehungsweise unterschätzen. Dieser Gedanke wurde auch durch die Bankenaufsicht aufgegriffen. In der neuen Solvabilitätsverordnung1) werden ergänzende Analysen, die sogenannten Stresstests, vorgeschrieben, die extreme, plausible Entwicklungen als Untersuchungsgegenstand haben.

Hypothetische Szenarien entwickeln

Ein wesentlicher Aspekt bei der Durchführung von Stresstest ist die Entwicklung extremer Krisenszenarien.2) Es stellt sich die Frage, wie diese generiert werden können. Hierfür ist es in der Regel nicht ausreichend, historische Entwicklungen in die Zukunft zu übertragen. Die Dynamik des Marktes mit immer neuen Wirkungszusammenhängen macht es erforderlich, dass hypothetische Szenarien entwickelt werden.

Auf Einzelkreditebene wird das Kreditrisiko3) durch die Ausfallwahrscheinlichkeit eines Kreditnehmers, die erwartete Inanspruchnahme bei Ausfall (Exposure at Default) und die Ausfallschwere (Loss Given Default) determiniert. Die Ausfallwahrscheinlichkeit wird in der Regel mit Hilfe von Ratingverfahren geschätzt. Je nach Entwicklungsstand des Risikomanagements schätzen Banken die beiden anderen Größen selbst oder verwenden extern vorgegebene Parameter. Ein wichtiger Aspekt beim Kreditrisiko auf Einzelgeschäftsebene ist, dass in der Regel eine ergänzende Analyse über die Kreditvergabe durch entsprechende Entscheidungsträger erfolgt. So müssen beispielsweise je nach Höhe des Kreditengagements und je nach Geschäftspolitik der Bank Kreditvorlagen erstellt werden, in denen auch eine qualitative Analyse außerhalb der verwendeten quantitativen Modelle erfolgt.

Neben der Steuerung der Einzelrisiken gewinnt die Risikobetrachtung auf Portfolioebene immer mehr an Bedeutung. Die typische Risikoverteilung eines Kreditportfolios ist in Abbildung 1 dargestellt. Entgegen der üblichen Darstellungsweise wird der Bereich der Stressereignisse als "Black Box" dargestellt. Die Häufigkeit und das Ausmaß dieser Ereignisse in der Vergangenheit lassen vermuten, dass der übliche flache Verlauf der Verteilungskurve die wirklichen Risiken nicht adäquat widerspiegelt.

Ausreißer nicht adäquat berücksichtigt

Die Messung des Portfoliorisikos erfolgt mittels Kreditrisikomodellen. Grundlegend werden zwei verschiedene Modellklassen unterschieden.4) Auf der einen Seite gibt es die Assetwert-basierten Modelle, bei denen Wertänderungen der Kreditengagements berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite existieren Modelle, die ausschließlich Kreditausfälle berücksichtigen. Beiden Modellklassen ist gemeinsam, dass sie auf statistischen Verteilungsannahmen beruhen, welche die Ergebnisse erheblich beeinflussen.

Beim Einsatz der verschiedenen quantitativen Verfahren haben sich gewisse Schwächen gezeigt. Auch mit den besten Modellen kann das tatsächliche Verhalten eines komplexen Systems Kreditportfolio nicht vorhergesagt werden.5) Vielmehr sind die Ergebnisse der Modelle eine Approximation des erwarteten Risikos unter Normalbedingungen. Es werden Verteilungsannahmen getroffen, extreme Entwicklungen beziehungsweise Ausreißer werden hierbei nicht adäquat berücksichtigt. Die ermittelten Kennzahlen liefern eine Indikation für den Risikogehalt eines Portfolios, wesentliche Wirkungszusammenhänge werden hierdurch nicht zwangsläufig transparent. Das heißt, gerade für die Geschäftsleitung ist häufig nicht nachvollziehbar, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Weiterhin besteht bei der Modellierung des

Kreditrisikos das Problem, dass historische Daten zur Kalibrierung der Verfahren nur eingeschränkt verfügbar sind. Einige Parameter, wie beispielsweise die Ausfallkorrelation,6) werden nur approximativ ermittelt.

Da häufig ähnliche Modelle bei unterschiedlichen Instituten zum Einsatz kommen, besteht die Gefahr eines gleichgerichteten Verhaltens. Hierdurch wird das gesamte Bankensystem anfälliger. Der Fokus vieler Verfahren liegt bei der Betrachtung einer kurz- bis mittelfristigen Zukunft unter der Annahme, dass sich wesentliche Zusammenhänge nicht verändern. Dass hierdurch teilweise falsche Steuerungsimpulse geliefert werden, hat die Vergangenheit gezeigt. Daher werden ergänzende Analysen benötigt, die

- eine langfristige Zukunft und alternative Entwicklungspfade betrachten,

- die wesentlichen Wirkungszusammenhänge transparent machen,

- gut verständlich und nachvollziehbar sind. Hierfür können Szenarioanalysen und Stresstests eingesetzt werden.

Plausible Extremszenarien

Bevor plausible, extreme Szenarien entwickelt und untersucht werden können, bedarf es einer Analyse des Begriffes "extrem". Negative Entwicklungen werden hinsichtlich ihrer Auswirkungen insbesondere auf die finanzielle Lage der Banken klassifiziert. Die Vorgabe exakter, absoluter Werte beziehungsweise von Jahresabschlusskennziffern ist aufgrund der Heterogenität der Banken nur schwer möglich. Daher kann der Begriff "extrem" nur unscharf definiert werden. Kick und Koetter klassifizieren vier Kategorien im Hinblick auf die Schwere des Ereignisses (Tabelle 1).7)

Ausfälle von Banken, das heißt Insolvenzen, treten relativ selten auf. In der Regel erfolgt eine Unterstützung durch andere Institute beziehungsweise den Staat.8) Hierdurch soll ein Vertrauensverlust der Einleger vermieden werden. Dennoch ist die Gefahr von Krisen bei Banken wesentlich höher als bei anderen Unternehmen.9) Obwohl Bankenkrisen in der Vergangenheit häufig unterschiedlich verliefen, kann eine grobe Klassifizierung in einer Matrix (Tabelle 2) erfolgen. Hier erfolgt eine Differenzierung nach der Ursache (intern, extern) und dem Verlauf der Krise (kontinuierlich/kumulativ, Schock).

Bei kontinuierlichen Entwicklungen besteht die Möglichkeit, diese frühzeitig zu erkennen. Schockereignisse sind überraschend und lassen sich nur schwer vorhersagen. Häufig bedingen Schockereignisse anschließende kontinuierliche Entwicklungen. So folgte beispielsweise nach dem Schockereignis "11. September" eine Phase des wirtschaftlichen Abschwungs. Im Bereich des Marktrisikos waren die Auswirkungen der Terroranschläge als Kurseinbrüche an den Börsen sofort ersichtlich, beim Kreditrisiko hingegen wurden die Konsequenzen erst in den Monaten nach den Anschlägen deutlich.

Auch ist der Begriff "Schock" relativ subjektiv, da er in der Regel aus Informationsdefiziten des Überraschten/Schockierten resultiert. Das Platzen einer spekulativen Blase wird häufig als Schockereignis empfunden, wenn diese vorher nicht erkannt wurde. Nicht immer ist eine eindeutige Zuordnung von Stressszenarien in die Matrix möglich. So lässt sich beispielsweise argumentieren, dass die Schieflage einer Bank, die durch den Ausfall eines einzelnen, großen Kreditnehmers (externe Ursache) verursacht wurde, auch die Folge von Konzentrationsrisiken und damit einem fehlerhaften Risikomanagement (interne Ursache) ist. Es stellt sich die Frage, welche Methoden jeweils geeignet sind, die Risiken in den Feldern der Matrix adäquat zu modellieren und zu managen.

Interne oder externe Entwicklungen?

Bei internen, kontinuierlichen Entwicklungen hat vor allem die Effizienz der Institute eine hohe Relevanz. Das bedeutet, dass bei diesem Risiko besonders Methoden und Modelle der Effizienzsteuerung angewendet werden sollten. Schockereignisse, die aus internen Ursachen resultieren, sind überwiegend dem operationellen Risiko zuzuordnen. Ein Beispiel hierfür ist der Betrugsfall, der zur Insolvenz der Barings-Bank führte. Demnach bieten sich für diesen Bereich die Methoden des Managements des operationellen Risikos an, so dass beispielsweise betrügerische Kreditvergaben vermieden werden können.

Externe Schockereignisse sind in der Regel nicht vorhersehbar. Obwohl ihre Auswirkungen nicht exakt quantifiziert werden können, sind diese meist so gravierend, dass entsprechende Vorsorge getroffen wird beziehungsweise Risiken vermieden werden. So werden beispielsweise im Kreditgeschäft zu große Konzentrationen auf einzelne Kreditnehmer unter anderem auch durch die Regelungen des Kreditwesengesetzes begrenzt.

Externe, kontinuierliche Entwicklungen spiegeln zum Teil die Zyklizität im Kreditgeschäft wider. Diese wird teilweise in den Risikomodellen berücksichtigt. Da die quantitativen Modelle auf historischen Daten basieren, können allerdings neue Wirkungszusammenhänge, die sich aufgrund geänderter Umfeldbedingungen ergeben, nicht entsprechend berücksichtigt werden. Das bedeutet, es müssen neue hypothetische Szenarien entwickelt werden.

Einsatz der Szenariotechnik

Zur Entwicklung von hypothetischen Szenarien bieten sich die Methoden der Szenariotechnik an. Die grundsätzliche Vorgehensweise soll daher anhand einer Fallstudie vorgestellt werden, die im Juli 2008 an der Fachhochschule Nordhausen durchgeführt wurde. Ausgangspunkt ist die Analyse des Szenariofeldes. In dem Beispiel wurde als Gestaltungsfeld das Bankenportfolio ausgewählt. Zunächst wurden hierfür die relevanten Einflussfaktoren zusammengetragen. Diese werden üblicherweise im Rahmen von Szenario-Workshops mittels Verwendung verschiedener Kreativitätstechniken identifiziert. Mit Hilfe einer Einflussmatrix (Tabelle 3) wurden aus den Einflussfaktoren Schlüsselfaktoren selektiert, die maßgeblich für Veränderungen des Gesamtsystems verantwortlich sind.

Anhand der Einflussmatrix werden die direkten Beziehungen der Einflussfaktoren zueinander analysiert.11)Dabei wird unterschieden zwischen keiner oder einer sehr schwachen (Wert 0), einer schwachen oder zeitlich verzögerten (Wert 1), einer mittleren (Wert 2) und einer starken oder sehr starken Wirkung (Wert 3). Die Spaltensumme ergibt die Passivsumme dieses Einflussfaktors, die Zeilensumme die Aktivsumme. Das Produkt aus Aktiv- und Spaltensumme ergibt den Dynamik-Index. Er zeigt an, wie stark der Faktor in das Gesamtsystem eingebunden ist.12) In dem Beispiel wurden anhand des Dynamik-Indexes Schlüsselfaktoren ausgewählt. Diese sind: Inflation, BIP, Verbrauchervertrauen, Wertberichtigungen, Vertrauen in das Bankensystem, Börsenentwicklung, Notenbankpolitik, Liquiditätslage sowie Ertragslage der Banken.

Für diese Schlüsselfaktoren werden mögliche Zukunftsprojektionen entwickelt. Beispielsweise sind für den Schlüsselfaktor "Börsenentwicklung" mögliche Alternativen eine Baisse, eine Börsenstagnation oder eine Erholung. Mit Hilfe einer Konsistenzmatrix (Tabelle 4) werden die Zukunftsprojektionen paarweise hinsichtlich ihrer Konsistenz beurteilt, um sicherzustellen, dass die zu entwickelnden Szenarien keine logischen Inkonsistenzen aufweisen und somit tatsächlich plausibel sind.

Auf Basis der Konsistenzanalyse wurde folgendes Stressszenario einer sich verschärfenden Finanzkrise entwickelt: die Inflationsraten normalisieren sich; das BIP schrumpft; das Verbrauchervertrauen nimmt deutlich ab; die Banken müssen weiterhin hohe Wertberichtigungen vornehmen, dies geht einher mit einem starken Vertrauensverlust; an den Börsen herrscht eine Baisse; es wird eine Philosophie der Marktbereinigung verfolgt, das heißt, Banken, die sich in einer Schieflage befinden, werden nicht mehr unterstützt, die Liquiditätslage verschlechtert sich, die Ertragslage der Banken ist schwach.

Das Krisenszenario entspricht einer nochmaligen Verschärfung der Entwicklung des Herbstes 2007 wie sie ein Jahr später dann tatsächlich eingetreten ist. Hierzu trägt insbesondere ein möglicher Wegfall der Unterstützung der Banken durch die Notenbanken, andere Institute oder den Staat bei. Somit steigt bei diesem Zukunftsbild die Gefahr, dass einzelne Banken nicht mehr aufgefangen werden. Hiermit verbunden sind neue Wertberichtigungen auf das Bankenportfolio der Institute. Das bedeutet, dass auch Banken von der Krise betroffen wären, die bisher von Wertberichtigungen verschont waren. Demnach sollten Kreditinstitute ihr Bankenportfolio kritisch analysieren, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie sich ein Wegfall der Unterstützung durch den Staat oder andere Institute auswirken würde. Beispielsweise können Veränderungen des Ratings simuliert werden, da die Unterstützung dieses wesentlich beeinflusst.

Wirkungszusammenhänge transparent machen

Mit Hilfe des kurzen Beispieles wurde die grobe Vorgehensweise bei der Anwendung der Szenariotechnik gezeigt. Die Vorteile dieser Vorgehensweise liegen darin, dass das Wissen mehrerer Experten eingebunden wird und trotzdem die Szenarioerstellung aufgrund des strukturierten Prozesses nachvollziehbar ist. Auch wenn historische Daten nur eingeschränkt vorliegen, werden durch die Analyse der Schlüsselfaktoren wesentliche Wirkungszusammenhänge transparent und konsistente Szenarien entwickelt.

Bei der Analyse des Portfolios mit Hilfe quantitativer Modelle erfolgt eine Bottom-up-Betrachtung. Durch Veränderung der Risikoparameter, zum Beispiel durch die Schätzung von gestressten Ausfallwahrscheinlichkeiten, werden Expected Loss und Unexpected Loss auf Kreditnehmerebene neu geschätzt und dann zu einem Portfoliowert aggregiert. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass ein exaktes Ergebnis geliefert wird. Die Wirkungszusammenhänge werden hierdurch aber nicht zwangsläufig transparent. Bei der Szenarioanalyse hingegen erfolgt eine Top-Down-Betrachtung. Für das Portfolio werden die Schlüsselfaktoren gefunden, die zu konsistenten Szenarien überführt werden. Durch diese Vorgehensweise werden wesentliche Wirkungszusammenhänge transparent. Allerdings können die Auswirkungen bei dieser eher qualitativ ausgerichteten Methode nur schwer quantifiziert werden. Hieran zeigt sich die Notwendigkeit, ergänzend qualitative und quantitative Analysen durchzuführen.

Literatur

Fink, A./Schlake, O./Siebe, A. (2000): Wie Sie mit Szenarien die Zukunft vorausdenken. In: Harvard Business Manager, Heft 2/2000, Seiten 34 bis 47.

Fitch Ratings Financial Institutions (2002): Bank Support in the Developed World, New York.

Gausemeier, Jürgen/Fink, Alexander/Schlake, Oliver (1996): Szenario-Management: Planen und Führen mit Szenarien, 2. Auflage, München; Wien: Hanser. Henking, Andreas/Bluhm, Christian/Fahrmeir, Ludwig (2006): Kreditrisikomessung: Statistische Grundlagen, Methoden und Modellierung, Berlin; Heidelberg: Springer.

Kick, Thomas/Koetter, Michael (2003): Slippery slopes of stress: odered failure events in German banking. In: Deutsche Bundesbank (Hrsg.); Discussion Paper Series 2: Banking and Financial Studies No 03/2007, Frankfurt am Main.

Krahl, Oliver/Wagner, Jörg (2007): Stresstests im Kreditrisikomanagement - neue Herausforderungen für Banken, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Heft 21/2007, Seiten 1155 bis 1158.

Verordnung über die angemessene Eigenmittelausstattung von Instituten, Institutsgruppen und Finanz-holding-Gruppen (Solvabilitätsverordnung - SolvV) vom 14. Dezember 2006.

Wahrenburg, Mark/Niethen, Susanne (2000): Vergleichende Analyse alternativer Kreditrisikomodelle, Kredit und Kapital, Heft 2, 2000, Seiten 235 bis 257.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X