Aufsätze

VR Banken von der Wende bis heute

Erinnern wir uns: Aufbruch und Umbruch waren 1989/90 die beherrschenden Emotionen mit Verunsicherung und Ängsten auf der einen Seite und Hoffnung und Westgläubigkeit auf der anderen Seite. Dabei wusste niemand so recht, wie sich allein die Anpassungsprozesse der gelenkten DDR-Wirtschaft an die soziale Marktwirtschaft vollziehen würden. Die Vorstellungen der Werthaltigkeit der DDR-Wirtschaft reichten in den wirtschaftspolitischen Lagern der etablierten Westparteien von beachtlich werthaltig bis hin zu nicht marktfähig. Die Auffassungsunterschiede sind durchaus erklärlich, waren die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sowie die Deutsche Einheit 1990 historisch doch einmalig und ohne Vorbild.

Hilfe zur Selbsthilfe

Manche West-Propheten tarnten sich in jener Zeit als Berater und Heilsbringer - in Wirklichkeit nutzten sie die Situation wegbrechender Systeme schamlos aus und zogen die oftmals gutgläubigen Ost-Bürger einfach über den Tisch. Von "Wegelagerern", "Goldgräberstimmung" und mehr war damals in dieser Ausnahmesituation die Rede. Aber es gab auch redliche Partner, die die Hand zur Hilfe reichten. Die Genossenschaftsorganisation mit ihrer tief verwurzelten Verantwortungsethik und ihrer Verantwortung vor der Geschichte ergriff ohne zu zögern die Initiative für breit angelegte Partnerschaftshilfen in allen neuen Bundesländern nach dem Motto "Hilfe zur Selbsthilfe".

Die Solidarität traf auf fruchtbaren Boden - immerhin ist Sachsen die Heimat des Genossenschaftspioniers Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883), dem Begründer des modernen Genossenschaftswesens und dem Vater des Genossenschaftsgesetzes. Dies wurde übrigens in der DDR nie außer Kraft gesetzt, wenngleich es aus politischen Gründen als nicht existent galt. Die auf Schulze-Delitzsch zurückgehenden Volksbanken und die von Raiffeisen begründeten Raiffeisenbanken standen nach dem Systemwechsel vor einem kompletten wirtschaftlichen Neuanfang.

Fusionen der Verbände in den neunziger Jahren

So begannen die Genossenschaftsverbände schon Anfang der neunziger Jahre, mit ihren regionalen Schwesterverbänden im Osten zu fusionieren und so ein einheitliches Genossenschaftswesen zu entwickeln. Vorläufer hierfür waren die zahlreichen Kooperationsverträge in der Übergangszeit. Jeder Westverband sorgte dafür, dass er Dutzende an Prüfern und Beratern für den Einsatz Ost bereitstellte oder vermittelte, sodass die dringenden Fragen vor Ort in Angriff genommen werden konnten. Alle Vorgängerverbände des heutigen Genossenschaftsverbandes e.V. waren hieran in vorderster Linie beteiligt.

In den Verbandszeitschriften lautete der solidarische Personalaufruf: "Aufruf an alle, die Mut und Freude am Aufbau genossenschaftlicher Banken haben". Auch die genossenschaftlichen Akademien leisteten solidarische Unterstützung von der ersten Stunde an. Die ersten Zusammenkünfte in den Bildungsstätten und Tagungslokalen in Ost und West wurden tausendfach genutzt, um offene Fragen zu klären und Kontakte herzustellen. In diesen Schulungsstätten wurden Millionen von DM gut investiert. Parallel dazu erhielten die ersten Verbände im Westen das Prüfungsrecht für die Genossenschaften Ost. Auch die Aufnahme der Banken in das bewährte BVR-Sicherungssystem - dem weltweit ältesten - mit 100-prozentigem Einlagen- und Institutsschutz verlieh dem Auftritt der Volksbanken Raiffeisenbanken ein hohes Maß an Vertrauen.

Gemischte Vorstandsteams als neues Modell

In den Banken wurde meist streng darauf geachtet, dass die neuen Vorstände als gemischte Ost-West-Teams agierten. Die in der DDR meist mit Frauen besetzten Vorstände (insgesamt waren mehr als 80 Prozent der damaligen Bankbeschäftigten Frauen) sollten in der Weise erhalten bleiben, dass die neue Vorstandsvorsitzende in der Regel eine Frau war und auch bleiben sollte: Sie kannte den Betrieb, die Mitarbeiter, die Kunden, die Region und den Markt. Der/die neue Westkollege/in brachte das neue Banken-Know-how und das Verständnis für soziale Marktwirtschaft und Wettbewerb mit. Auf diese Weise gelang den Banken der Eintritt in den neu entstehenden Markt.

In der DDR spielten die damaligen Genossenschaftskassen für Handwerk und Gewerbe (die späteren Volksbanken) und die Bäuerlichen Handelsgenossenschaften (die späteren Raiffeisenbanken) eine untergeordnete Rolle, da sie nur geringfügig Kredite vergaben und Einlagen zu Einheitszinsen entgegennahmen. Das Geschäft mit Privatkunden war anderen Instituten zugeordnet. Das DDR-Bankensystem kannte keinen Wettbewerb und war unter anderem nach den Zuständigkeiten "Land- und Nahrungsgüterwirtschaft" beziehungsweise "Handwerk und Gewerbe" eingeteilt. 1990 wandelten sich daher die Genossenschaftskassen wieder in Volksbanken um - entsprechende Umwandlungen fanden auch bei den Bäuerlichen Handelsgenossenschaften in Raiffeisenbanken statt.

Umstellung in atemberaubendem Tempo

Die Umstellung auf den Markt vollzog sich nahezu in gefühlter Schallgeschwindigkeit, so wie es der Markt verlangte. Am Anfang stand die Währungsunion mit dem magischen Datum 30. Juni 1990 - einem epochalen Ereignis, das mit der späteren Euro-Währungsumstellung allerdings nur eingeschränkt vergleichbar war, da die Euro-Umstellung mit langem zeitlichen Vorlauf geplant werden konnte. In jener Umbruchszeit galt es möglichst schnell, neue Gesetze, neue EDV-Technik sowie eine neue Geschäftspolitik im Aktiv- und Passivgeschäft einzuführen und den allerorten anzutreffenden Investitionsstau technischmaschineller, baulicher, ausbildungsmäßiger oder marktwirtschaftlicher Art aufzulösen - eine Herkulesaufgabe!

Die seitens der Genossenschaftsverbände eröffneten Verbindungs- und Informationsbüros mit gemischten Prüfer- und Beraterteams in verschiedenen Landes- und Bezirkshauptstädten begannen vor Ort sehr schnell mit ambitionierten Aufbauhilfen eine neue personelle und betriebliche Infrastruktur zu entwickeln. Hierzu gehörte auch die dezentrale Errichtung von Schulungsstätten für die Qualifizierung von Vorständen und Mitarbeitern. Die Aktivitäten aller Beteiligten gingen oftmals bis an oder über die Grenzen der Belastbarkeit, wie es damals gleichlautend hieß: Die außerordentliche hohe Motivation auf beiden Seiten sei ein Geschenk der Stunde gewesen, denn ohne diese gesamtdeutsche solidarische Einstellung hätte das enorm geforderte Tempo so nicht gegangen werden können, meinen Beteiligte im Rückblick.

Personelle, fachliche und sachorientierte Unterstützung

An den zahlreichen Unterstützungsmaßnahmen beteiligten sich vornehmlich die jeweils angrenzenden Regionalverbände zusammen mit dem genossenschaftlichen Verbund. Die Partnerbanken im Westen unterstützten ihre Ostpartner beim Neuaufbau sowohl in personeller und fachlicher Hinsicht als auch in sachorientierten Bereichen mit Büroausstattungen oder Fachliteratur. Ohne die hochmotivierte Einstellung der Vorstände und der Mitarbeiterschaft wären die in dieser Zeit des Um- und Aufbruches erbrachten Leistungen nicht möglich gewesen. Auch Genossenschaftliche Rechenzentren bauten innerhalb kurzer Zeit eine Infrastruktur, die den Zahlungsverkehr nach bundesweit einheitlichen Kriterien ermöglichten. Hierfür waren neben der Bereitstellung umfangreicher Hard- und Software auch intensive Systemschulungen nötig.

In den Folgejahren ging es auch darum, durch den Abbau von Marktüberschneidungen den innergenossenschaftlichen Wettbewerb (ein Markt - eine Bank) zu beenden. Die Bündelung der Kräfte schuf erst die Voraussetzung für ein wirksames Gegengewicht zu den anderen Finanzgruppen und damit für ein selbstbestimmtes Agieren vor Ort.

Banken- und Strukturentwicklung Ost: nicht immer linear

Der Konzentrationsprozess vollzog sich bei den Kreditgenossenschaften im Osten zügig: Von den einst noch 361 Kreditgenossenschaften verblieben im Jahr 2003 noch 100, aktuell sind es 74. Die im Jahr 1990 mit knapp 80 Prozent (Tabelle) fast ausschließlich von den Kundeneinlagen dominierten Bankbilanzen Ost waren Ende 2012 auf der Aktivseite zu 30 bis 40 Prozent von Krediten - im Vergleich dazu: die Bankbilanzen West zu 60 Prozent - geprägt. Die Kundeneinlagen waren seinerzeit als Guthaben bei der Zentralbank/Staatsbank/BLN angelegt. Einen signifikant höheren Anteil als im Westen weisen heute die Bilanzen Ost auch durch das stärkere Investment in Wertpapiere auf. Die durchschnittliche Bilanzsumme im Osten hat sich von rund 33 Millionen Euro (damals rund 66 Millionen DM) auf aktuell 493 Millionen Euro entwickelt. Das entspricht in etwa einer Steigerung um den Faktor 15.

Doch nicht alles verlief erwartungsgemäß linear und glatt. War in den ersten Jahren nach der Deutschen Einheit mit der politischen Euphorie auch eine wirtschaftliche Euphorie verbunden - die Wachstumsraten verwöhnten die Wirtschaft und Gesellschaft - so zogen am Wirtschafts himmel auch dunklere Wolken auf. Manche Investitionen von Unternehmen und auch Kredite von Banken entpuppten sich als Luftschlösser. Die Folge: Sie entwickelten nicht die versprochene Treibkraft, sodass der dahinter stehende Kredit schwach wurde. Insolvenzen häuften sich mit der Folge von Marktbereinigungen. Wertberichtigungen in nicht unerheblichem Ausmaß blieben bei den Banken nicht aus.

Die Banken haben aus ihren Erfahrungen gelernt und etwa um die Jahrtausendwende gab es wieder mehr Grund zur Freude, da der Stabilisierungsprozess nachhaltig griff und Objektfinanzierungen nur bei entsprechender Werthaltigkeit erfolgten. Auch die Ertragslage wurde zunehmend besser, sodass auch die Eigenkapitalsituation der Volksbanken Raiffeisenbanken im Osten heute als gut bis sehr gut bezeichnet werden kann. Mit entsprechenden Marktanteilsgewinnen konnte im Markt weiter gepunktet werden. Besonders im Rahmen der Finanzkrise zeichneten sich die VR Banken durch eine außerordentliche Stabilität aus. Sie waren besonders deswegen krisenresistent, da sie auf den internationalen Finanzmärkten nicht das Kapital ihrer Mitglieder und Kunden "verzockt", sondern solide Geschäfte mit ihren Mitgliedern und Kunden nach dem traditionellen Geschäftsmodell getätigt haben.

Herausforderung Abwanderung

Die Herausforderungen heute liegen besonders im gesellschaftlichen Wandel - Stichwort Demografie. Durch anhaltende Abwanderung junger Menschen aus betroffenen Gebieten und Alterung der verbleibenden Gesellschaft vollzieht sich schleichend aber stetig ein Erosionsprozess. Dies gilt es zu erkennen und dem sich verschärfenden Wettbewerbsdruck durch Konzepte rechtzeitig gegenzusteuern, sei es durch Strukturmaßnahmen oder die Erschließung neuer Ertragspotenziale. Die Genossenschaftsbanken im Osten sind es seit der Wende gewohnt, sich dem Marktgeschehen ständig anzupassen. Das ist die beste Fortschrittsvoraussetzung, auch diesem Prozess erfolgreich zu begegnen.

Der Genossenschaftsverband unterstützte in Wahrnehmung seiner Betreuungsfunktion die Volksbanken Raiffeisenbanken in den neuen Bundesländern stets nachhaltig. Auch in der Gesellschaft herrschte zunehmend Konsens, dass bis heute Grundlage der Deutschen Einheit und der sozialen Marktwirtschaft ein gemeinsames freiheitliches Grundverständnis ist und im Übergang hierfür ideelle und materielle Hilfen notwendig gewesen sind. Damit war die Grundlage eines Erfolg versprechenden Weges der Banken für deren mittelständische Klientel gelegt.

Die erzielten Fortschritte bei den Volksbanken Raiffeisenbanken im Osten waren und sind beeindruckend: Die Risikotragfähigkeit hat über die Jahre eine gute Entwicklung genommen, Marktanteile konnten hinzugewonnen werden. Die Verwaltungsaufwendungen wurden reduziert, die Vertriebskraft gestärkt. Zu keinem Zeitpunkt gab es eine "Kreditklemme". Die Bedeutung als Mittelstandsbanken in den Regionen ist gestiegen.

Kein historisches Vorbild für die Deutsche Einheit

Nach der Wende gehörte die Weiterentwicklung der ehemaligen DDR-Genossenschaftsbanken hin zu heute leistungsfähigen regionalen Universalbanken zu den Erfolgsgeschichten einer historisch einmaligen Umwandlung: Eine 40 Jahre praktizierte Zentralverwaltungswirtschaft transformierte sich zu einer Markt gerichteten Wirtschaft. Allen Kritikern zum Trotz: So eine Wende mit der Überleitung zur sozialen Marktwirtschaft war niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte geprobt worden - die dahinter stehende Leistung der Menschen und des eingesetzten wirtschaftlichen Leistungspotenzials an Transfermitteln sind daher nicht hoch genug einzuschätzen. Die genossenschaftliche Solidarität hat sinnbildlich gegriffen.

In einer Zeit des kompletten Zusammenbrechens der östlichen Zentralverwaltungswirtschaften und des gleichzeitig heranwachsenden EU-Binnenmarktes waren seinerzeit politische Zentrifugalkräfte an der Tagesordnung. Auch die Verbände orientierten sich parallel in beide geforderten Richtungen. Wenngleich auch die versprochenen "blühenden Landschaften" nicht überall und gleich Realität wurden, so ist Deutschland heute national mit der durch mutige Bürger erkämpften Freiheit längst wieder zusammengewachsen, auch wenn nicht alle Einschnitte der jahrzehntelang erzwungenen Trennung restlos verwachsen sind. Manches dauert offenbar auch länger als eine Generation. Das neue Deutschland heute kann sich sehen lassen - international hat es sich Ansehen und Respekt erarbeitet und behauptet sich im Wettbewerb. Die Genossenschaftsorganisation hat ihren Teil dazu beigetragen.

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