Leitartikel

Eine zu große Koalition?

Die Schnellen schlagen die Langsamen heißt eine geläufige Erkenntnis aus der Produktionswirtschaft. Wer seine Ideen schneller entwickelt, rasch auf den Markt bringt und damit im Idealfall sogar einen Trend einleiten kann, hat erhebliche Vorteile gegenüber den Wettbewerbern. Wie man derzeit beispielsweise an dem besonders in Deutschland ausgeprägten Hang zu Zertifikaten und strukturierten Produkten aller Art erkennen kann, lässt sich dieses Muster in punkto Produkt- und Dienstleistungsangebot auch auf die Finanzwirtschaft übertragen. Aber wehe, man wendet das Bild auf Themenbereiche mit großen Abhängigkeiten von europäischen oder weltweiten Regularien an. Dann ist diese Sicht der Dinge allem aktuellen Eindruck nach doch arg zu relativieren und schlägt vielleicht sogar ins Gegenteil um.

Wer sich bei der Umsetzung regulatorischer Vorgaben allzu schnell und gewissenhaft an die Spitze der Bewegung setzt, dem drohen jüngsten Erfahrungen nach aus zweierlei Gründen gar Wettbewerbsnachteile: In der Entwicklungs- oder Implementierungsphase binden solche Projekte, wie sie etwa der in Brüssel initiierte EU-Aktionsplan für Finanzdienstleistungen nach sich zieht, regelmäßig viele Mitarbeiter und mindestens ebenso große IT-Kapazitäten. Beides steht dann für die ganz gewöhnliche Markterschließung im Tagesgeschäft schlicht und einfach nicht mehr zur Verfügung. Dieses Problem wäre indes leicht zu verschmerzen, wenn die gründliche Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit die entsprechenden Früchte tragen würde. Aber das sieht in der Realität doch anders aus: Wird der Zeitrahmen der geplanten Umsetzung einer europäischen oder weltweiten Regelung immer wieder nach hinten verschoben - siehe Basel II, siehe vielleicht Sepa - dann bringt die Verzögerung möglicherweise sogar einen weiteren Nachteil für die Schnellen. Denn nun müssen sie das alte und das neue System nebeneinander aufrechterhalten und binden damit abermals Kapazitäten, die die "langsamen" Wettbewerber voll in die Verbesserung ihrer betriebswirtschaftlichen Abläufe stecken können.

Nun bedeutet die Wahl des richtigen Zeitpunkts für den Start der Umsetzung regulatorischer Vorgaben schon höhere Weihen. Denn sie offenbart ebenso wie die richtige Entscheidung über das Maß an hauseigenen Ressourcen, die man diesen Projekten zuteilt, eine Art strategisches Verhalten im geschäftsmäßigen Umgang mit dem leidigen Geflecht aus Gesetzen, Richtlinien oder Verordnungen - in der Sprache der Aufsicht sozusagen die Anwendung "fortgeschrittener Ansätze" im Regulierungsdickicht. Im Kern dreht sich die aktuelle Diskussion freilich nicht um solche Feinheiten, sondern um den grundsätzlichen Umgang mit der ausufernden Bürokratie. Ganze Wirtschaftszweige, ganze Berufsgruppen, ganze Produktbereiche der Finanzwirtschaft sehen sich durch die schiere Fülle der einzuhaltenden Vorschriften und Meldepflichten in ihrer Existenz bedroht. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine Interessengruppe ihre Verärgerung über die Ausmaße der Bürokratie artikuliert und bei der Politik einen nachhaltigen Abbau des Regelungswusts anmahnt. Regelmäßig thematisiert und an Fallbeispielen aufgearbeitet wird das Thema etwa von den bayerischen Genossenschaftsbanken. Und aus den letzten Wochen sei die Forderung der privaten Banken erwähnt, die BaFin und/oder die Bundesbank bei fehlerhafter Aufsicht bitteschön an den entstandenen Kosten zu beteiligen. Trägt solch ein Vorschlag wirklich zur Eindämmung der Bürokratie bei oder schafft er neue?

Aufgenommen werden solche Anliegen der Interessengruppen von den Amtsträgern seit vielen Jahren mit echtem Verständnis. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist jedenfalls beileibe nicht das einzige Dokument, das ernsthafte Bemühungen zur nachhaltigen Eindämmung der Regulierungsflut enthält. Der Bundesminister der Finanzen bekräftigt in diesem Heft noch einmal ausdrücklich seinen Willen zu messbaren Fortschritten bei dieser "Standard-Beigabe". Und viele europäische Regierungen haben sich auf nationaler Ebene ernsthaft des Themas angenommen. Aber von den EU-Politikern über die Bundes- und Landtagsabgeordneten bis hin zu den politischen Vertretern in den Kreistagen, Stadtparlamenten und Gemeinderäten müssen alle Verantwortlichen an Zahl und Umfang der relevanten Vorschriften immer wieder selbstkritisch reflektieren, dass der Regelungsbedarf scheinbar immer größer wird und das Beharrungsvermögen von althergebrachten Vorschriften unbeherrschbar scheint. An Grundkonsens über die Notwendigkeit eines Bürokratieabbaus fehlt es demnach nicht - nicht in Deutschland, nicht in Europa und nicht in der Welt. Im Gegenteil, so umfassend ist mittlerweile die große Koalition der Bürokratieabbauer, so breit ihr Fundament, dass allein die schiere Zahl der erklärten Befürworter den angepeilten Erfolg schon wieder arg zu erschweren droht. Wenn nämlich allzu viele den Willen zur strikten Vereinfachung betonen, alle aber im Grunde genommen eigene Interessen bei der konkreten Umsetzung verfolgen, dann ist es sehr schwer, zu dem allseits gewünschten Ergebnis zu kommen. Auf dieser abstrakten Ebene der Lippenbekenntnisse haben sich über viele Jahre hinweg jedenfalls keine sichtbaren Erfolge eingestellt.

Nun hat sich die Diskussion zuletzt von bloßen verbalen Absichtserklärungen verabschiedet und ist in das Stadium konkreter Zahlen vorgedrungen. Für die holländische Wirtschaft, so umreißt Peer Steinbrück die Ausgangslage, sind 16,4 Milliarden Euro oder immerhin 3,6 Prozent des BIP als Gesamtbelastung der Wirtschaft mit Bürokratiekosten ermittelt worden. Für Dänemark sind es 4,3 Milliarden Euro beziehungsweise 2,3 Prozent des BIP. Und auf Deutschland übertragen sind das bei allen Unschärfen einer solchen Rechnung zwischen 50 und reichlich 80 Milliarden Euro an Gesamtbelastung. Einigermaßen zuverlässige Rechnungen dazu gibt es hierzulande zwar noch nicht. Aber das Statistische Bundesamt hat den Auftrag, noch in diesem Jahr mit Hilfe des so genannten Standardkostenmodells die Belastungen aller in Gesetzen und Verordnungen des Bundes enthaltenen Informations- und Meldepflichten zu erfassen.

Für die Kreditwirtschaft hat der Zentrale Kreditausschuss schon vorgearbeitet und beim Institut der Deutschen Wirtschaft für insgesamt 20 Bürokratiefälle die Kosten ermitteln lassen. Nicht berücksichtigt sind dabei allgemeine Bürokratiekosten wie die Berechnung und Abführung von Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Und auch die bankenspezifischen Regulierungen wie Basel II bleiben außen vor. Aber dennoch kommen allein für die hiesige Branche 3,14 Milliarden Euro zusammen, das sind eindrucksvolle 4,1 Prozent der Verwaltungskosten der Institute, 7,2 Prozent des Personalaufwandes, 9,4 Prozent des Jahresüberschusses oder 4 700 Euro je Bankmitarbeiter. Zwei Drittel des Betrages entfallen auf sechs Fälle, die mit den Stichworten Geldwäsche (775 Millionen Euro), Zinsabschlag (628 Millionen Euro), Statistisches Meldewesen (254 Millionen Euro), Kontenabrufverfahren (212 Millionen Euro), Meldepflichten an das Bundesamt für Steuern (193 Millionen Euro) und Auskunft über Vermögenswerte (190 Millionen Euro) skizziert werden - fast allesamt Geburten aus der jüngsten Vergangenheit.

So eindrucksvoll die Identifizierung der Kostentreiber und die Messung der Kostenbelastungen auch sein mögen, ihre Ausbreitung vor einem erstaunten Publikum ist nur der erste Schritt, dem angestrebten Bürokratieabbau tatsächlich näher zu kommen. Darüber hinaus bedarf es konkreter Vorstellungen, in welchem Maß die Kostenbelastungen gemindert werden sollen und - schwieriger noch - der zugehörigen politischen Beschlüsse und der Umsetzung konkreter Maßnahmen. An dieser Stelle verweist das Institut der deutschen Wirtschaft auf die Beispiele Niederlande, Dänemark, Polen und Ungarn, die alle ganz konkrete Ziele für einen Abbau vorgegeben haben. Die Wissenschaftler selbst bringen ein Reduzierungsziel von 25 Prozent der Kosten ins Spiel. Und als im vergangenen Jahr federführender ZKA-Verband hat der BVR flankierend den Zeithorizont bis 2010 eingebracht.

Dass es in der öffentlichen Diskussion jetzt um ganz konkrete Zahlen beziehungsweise Einsparziele geht, nährt die Hoffnung, dass auch die Bürger in absehbarer Zeit erste Erfolgserlebnisse registrieren dürfen. So unzureichend und ausbaufähig die derzeitigen Methoden zur quantitativen Erfassung der Bürokratiekosten auch sein mögen, so sollten sie doch zielstrebig weiterverfolgt und weiterentwickelt werden. Denn wenn man sie auf vergleichbarem Niveau hält oder im Zeitablauf im Sinne einer internationalen Angleichung der Berechnungsmethoden sogar noch weiter verfeinern könnte, ließe sich wenigstens von Jahr zu Jahr klarer als bisher feststellen, ob sich die Regulierungskosten nach unten oder, wie gewohnt, immer nach oben bewegen. Andere flankierende Maßnahmen, wie die bereits erfolgte Einsetzung des nationalen Normenkontrollrates für eine umfassende Abschätzung der Gesetzesfolgen und möglicherweise auch die präventive Begrenzung der Gültigkeit von Gesetzen auf eine vorher festgelegte Zeitdauer, nach deren Ablauf sie neu auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen sind (sogenannte Gesetzesrevision), lohnen ebenfalls den ernsthaften Praxistest. Die Bereitschaft zu einer nachvollziehbaren Erfolgskontrolle für wirksamen Bürokratieabbau wächst auf allen Ebenen. Das sollte die Politik unbedingt nutzen.

Zu euphorisch darf der gemeine Banker die Aussichten aber wohl nicht einschätzen, denn bei aller Sehnsucht nach einer Regulierungspause steht im laufenden Jahr als vergleichsweise neue Herausforderung die Umsetzung der Richtlinie über die Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) an. Und mit welchen Unwägbarkeiten und Verunsicherungen dieses Projekt verbunden ist, verdeutlichen die beiden Beiträge aus der BaFin und der Kreditwirtschaft in diesem Heft. Wie die Autoren aus der Bankpraxis zum Ausdruck bringen, dürfen sich die Privatbankiers dabei noch in einer komfortablen Lage fühlen: Denn die erforderliche Klassifizierung in "Privatkunde" und "Professioneller Kunde", wie sie der seit Mitte November 2006 vorliegende Gesetzesentwurf mit dem schönen Kürzel FRUG-E verlangt, fällt naturgemäß jenen Instituten leichter, die ohnehin Wert auf ein genaues Kundenprofil legen.

Doch was passiert im breiten Massengeschäft? Wird man dort zu Einstufungen gelangen, die einfach handhabbar sind? Werden auch kleinere und mittlere Häuser diese Herausforderungen angemessen bewältigen können? Noch herrscht in dieser Frage viel Unsicherheit und viel Informationsbedarf. Zwar haben die großen Verbände längst Arbeitsgruppen eingerichtet und beraten über die organisatorische und technische Umsetzung. Aber gerade bei den Primärinstituten weiß außer den direkt in die laufenden Projekte eingebundenen Mitarbeitern noch niemand so recht, was auf ihn zukommt. Viele Sparkassen und Genossenschaftsbanken vertrauen darauf, dass diese Dinge zum größten Teil auf der Ebene der Verbände, der Zentralinstitute und der Technikdienstleister gelöst werden und der Anpassungsbedarf auf Primärbankebene sich mehr oder weniger standardisieren lässt. Speziell bei den beiden großen Verbünden führt das im Fall MiFID wie auch bei der Geldwäsche und weiteren regulatorischen Vorgaben zu der krotesken Situation. Nämlich dass die Verbände zwar immer und überall für den Bürokratieabbau plädieren, die Umsetzung der vielen Vorgaben für die Primärbanken ihnen aber auf Jahre hinaus eine Unentbehrlichkeit und damit allemal eine Existenzberechtigung beschert. Macht das alles Hoffnung? Mo.

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