Leitartikel

Halbzeitgedanken

Vielleicht kommt sie ja noch, die rechte Ferienstimmung für einen wunderschönen Sommer 2008. Vielleicht, wenn die Hundstage im August den Politikern die Lust am Lärmen nehmen, den Mobilisten den Frust am Stau, wenn die Konjunktur bei sengender Hitze nur noch die Limonadenpreise treibt und die nationale Kreditwirtschaft ihre Blessuren ganz einfach erst einmal heilen lässt. Aber irgendwie scheint es mit dem sommerlichen Zurückschalten, Abschalten diesmal besonders schwierig zu werden. Es herrscht Unruhe bei Land wie Leuten. Sie ist berechtigt. Denn seit sich "Energiekrise" und "Finanzkrise" zwar gottlob nicht vereinen, aber doch nebeneinander durch die gleiche Zeit marschieren, wird die Kalkulierbarkeit ökonomischen Geschehens einer doppelten Belastung ausgesetzt. Unsicherheit über das, was passieren könnte, hat aber noch alleweil Vorsichten provoziert, die lähmend auf Konjunktur und Aufschwung wirken. Und was "die da oben" Vorsorge und Konsolidierung titulieren, nennen "die da unten" schlicht Angst.

Die Angst vor dem Zusammenbruch von Finanz und Wirtschaft, vor dem chaotischen Kollaps der Märkte und der Pleite der Staatshaushalte ist groß, und sie wächst. Dafür spielt kaum eine Rolle, dass sie unbegründet ist. Die Zentralbanken des Jahres 2008 sind viel, viel schlauer als die der Weltwirtschaftskrise vor fast drei Generationen. Die Staatengemeinschaft ist eine weitaus homogenere als in der Völkerbundzeit. Das Bankensystem verkraftet - noch? - Niederlagen und Verluste in einer Größenordnung, die vor 20 Jahren den meisten Global Playern den Atem aus Kredit- wie Handelsbüchern genommen hätte. Und bei Wirtschaft und Industrie verdecken die aktuellen Schlagzeilen zu den Massenentlassungen bei feinen Namen, dass ihre Betriebswirtschaften "nachher" in aller Regel effektiver arbeiten als vorher. Aber vor allem: Das, was man in Mitteleuropa voller Stolz als den gesunden Mittelstand definiert, weist derzeit gerade in Deutschland eine so noch nie gekannte Stabilität auf.

Dennoch ist es richtig, wenn ein Bundesfinanzminister dieser Tage keine Rede hält, ohne die Krisenfurcht wenigstens zu dämpfen oder den Konjunktureinbruch als nirgends bevorstehend zu orten: Moral suasion mag nicht der politischen Weisheit letzter Schluss sein. Aber mehr hat man eben jetzt nicht. Ob die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank, dabei besonders die jüngste Leitzinserhöhung mehr als ein Versuch solcher Moral suasion gewesen ist, darf bezweifelt werden. Denn "eigentlich" soll dieses letzte Instrument der Notenbank ja laut herrschender Lehre via Liquiditätsverknappung respektive Kreditverteuerung die gewaltige Aufgabe haben, eine aufkeimende Inflation wirksam zu bremsen. Nun wird die gegenwärtige Geldentwertung in ihrer erschreckenden Höhe - fünf Prozent Inflationsrate sagen böse Prognosen bis 2009 voraus - aber bekanntlich nicht durch eine allgemein überschäumende Expansion getrieben, sondern ziemlich speziell durch die Energiepreise. Und von ihnen weiß man keineswegs sicher, ob die Gründe für ihren dramatischen Anstieg eher in einer geschickten Angebotsstrategie der produzierenden Oligopolisten oder tatsächlich in einer erhöhten Nachfrage der alten und neuen Industrieländer liegt.

Von der Entwicklung der Energiepreise zu behaupten, sie sei vor allem eine Folge "billigen Geldes", dies wagt denn auch niemand. Die Geldpolitik könnte also höchstens und sehr theoretisch versuchen, die internationale (! ) Konjunktur über Liquiditätsverengungen so nachhaltig zu beeinflussen, dass die Unternehmen weniger Produktionsmittel und somit auch weniger Energie nachfragen. Das wäre eine sehr vage Geschichte! Zugleich schreit jedoch der fortgesetzte Berichtigungs- und Abschreibungsbedarf der Kreditwirtschaft nach fortgesetztem Mittelzufluss. Eine EZB und erst recht eine US-Notenbank, die die Liquidität des ächzenden Bankensystems durch ihre Zinspolitik heute wirklich spürbar einschränken würde, stieße auf vollendetes Unverständnis. Sie schöbe ja den Staatshaushalten noch mehr als jetzt schon die Rolle des Lender of Last Resort zu. Diese Konstellation darf den Eindruck nähren, dass die Leitzinserhöhung der EZB von Juni 2008 - und auch bald die nächste - vielleicht gar nicht wirklich belastend wirken soll. Man wird sich im Detail anschauen müssen, welche unmittelbaren Refinanzierungsmöglichkeiten "sonst" die EZB in diesen und den kommenden Wochen offeriert.

Auf jeden Fall sehr kurz würde greifen, wollte man die heftigen Kurseinbrüche an der Aktienbörse als übliche Reaktion auf die Leitzinserhöhung darstellen. In einem Dax um 6 000 Punkte und weniger steckt Grundsätzlicheres als die (noch leichte) Verteuerung finanzierter Depots und die Konkurrenz (noch sanft) gestiegenen Rentenrenditen. Erstens ist gerade die deutsche Anlegerschaft noch in höchstem Maße misstrauisch. Sie kann Aktien wenig als längerfristige Assets leiden. Die furchtbaren Verluste am Neuen Markt sind noch in lebhaftester Erinnerung.

Zweitens erschüttert immer wieder das Ausmaß der Finanzkrise jedes Vertrauen in die Finanztitel. Und es sind dabei nicht allein die Offenbarungen der Quartalsbilanzen, die die Börse beunruhigen. Sondern hinzu kommen die offenen institutionellen Fragen: Wer übernimmt wen jetzt "billigst"?! (Über Jochen Sanios Warnung, die IKB könne eine Krise historischen Umfangs provozieren, spottet übrigens rein gar niemand mehr.) Drittens steht zurzeit in vielen Dax-Kursen der Industriepapiere die eingangs zitierte Unsicherheit zum weiteren Konjunkturverlauf: Noch nie war Börse ein rationales Phänomen.

Schön zu beobachten ist der aktuelle Neid der Börsenunternehmen in Gestalt ihrer sprechenden Vorstände auf sogenannte Familienkonzerne. Diese müssten ja vor allem in schwierigen Zeiten nicht alle drei Monate eine Bilanz zu Marktpreisen publizieren, müssten sich nicht laufend vor der Horde der blindwütigen Analysten demütigen. Nein, die nicht-börsenabhängigen Unternehmen könnten stattdessen im Stillen jenes langfristige Erfolgsstreben verfolgen, jene Nachhaltigkeit, die zu wahrer Kraft führe. Zu Recht darf dieser Jammer der Börsenwerte Spott auslösen - und die Angelegenheit wird denn auch nicht ohne Häme kommentiert. Denn das Going Public im Sinne einer Wirtschaftsverfassung, die auf schier grenzenloser Transparenz gründet, die den Eingang zum Kapitalmarkt ohne Bankenpforte zur allgemeinen Selbstverständlichkeit werden lässt, und die über ein ausgeprägtes (Haupt-)Versammlungswesen die gesamte Ökonomie demokratisiert - das sei die einzig wahre Zukunft, ist in vielen wichtigen Reden sehr schön gesagt worden. Falls es noch eines Beweises für die Effizienz von Börsenunabhängigkeit bedurft hätte, lieferte ihn soeben die Schaeffler-Gruppe. Sie kann sich ganz offensichtlich wie die Familien Piëch/Porsche, wie Bosch allemal, wie Schickedanz und Haniel den Zugang zu allen Kapitalmärkten und Refinanzierungsinstrumenten verschaffen, ohne den Zwängen der offiziellen Quotation zu unterliegen. Und alle diese " Familienbetriebe" können offenkundig nutzen, dass sie mehr über die Börsenwerte wissen, als diese über sie. Dass es - mit Verneigung gegenüber Oppenheim - in der Bundesrepublik keine wirklich private Bank in, sagen wir Commerz-bank-Dimensionen gibt, die jetzt still auf ihren Reserven hocken bleiben dürfte, ist ein Jammer: Die Redaktion hat das Thema (Kredit)Wirtschaft und Kapitalmarkt - die totale Diktatur? zur Überschrift der 54. Kreditpolitischen Tagung am 7. November 2008 gemacht.

Zu den Auffälligkeiten dieses ersten Halbjahres 2008 gehört die Einmischung der Politik in die unternehmerische Gegenwart. Vor allem die Ministerpräsidenten der Bundesländer gebärden sich nicht anders als die Duodezfürsten alter Tage, denen der Merkantilismus schönste Früchte für den Einsatz ihrer Souveränität zwecks Hebung des gemeinen Wohlstands versprach. Ob Oettinger oder Wulff, Beckstein oder Rüttgers: Sich einzumischen, wenn Unternehmen wachsen oder schrumpfen wollen, gilt inzwischen allem Eindruck nach als Pflicht eines wahren Landesvaters. Vielleicht schwappt dabei noch die Staatswirtschaft der DDR in die fast allgemeine Zustimmung der öffentlichen Meinung zu landespolitischen Eingriffen. Aber gewiss spielt auch eine Rolle, dass Länder, Kommunen und natürlich auch der Bund die "Förderpolitik" zur offiziellen Aufgabe öffentlicher Hände erklärt haben. Dementsprechend die Verwendung des Fördergeldes nicht allein zu überprüfen, sondern sie politisch zu begleiten, darf also durchaus als angemessen angesehen werden.

Hinzu kommt jedoch ganz eindeutig der Landesbedarf an Prestige. Wenn in München mindestens sechs Dax-Werte ihren Verwaltungssitz haben, sonnt sich die Landesregierung. Und wenn Herzogenaurach nach Hannover greift wie Stuttgart nach Wolfsburg, ist die Unterstützung durch die eine Regentschaft und die Ablehnung durch die andere Pflichtübung. Geradezu groteske Züge hat die politische Einmischung bei den Landesbanken angenommen. Das, was man "Standortpolitik" nennt, scheint bei öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten die ökonomische Vernunft erst einmal auszuschalten: Die eigene Landesbank vor Ort gilt der Mehrheit der Landesregierungen bis heute als ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer souveränen Handlungsfähigkeit. Dass dies längst purem Unsinn gleichkommt, weil jede Instrumentalisierung von Bankgeschäft für politische Ziele das betreffende Institut sehr schnell in die Existenzgefährdung treibt, weil stattdessen überall landeseigene Förderbanken dem Finanz- oder Wirtschaftsminister aufs Wort zu folgen haben, und weil Kommunalgeschäft in jeder Form vom Wett bewerb der gesamten Kreditwirtschaft profitiert, ist eine Erkenntnis, die bislang nur wenige Landesregierungen gewonnen haben.

Das ganze Unglück für die Landesbanken zeigt sich in diesem landesherrlichen Machtgehabe auf exemplarische Weise am tragischen Fall der WestLB. Mit jeder Verzögerung bei ihrer endlichen Unterbringung bei neuen Eigentümern ist sie bis jetzt ein Stückchen wertloser geworden. Einen "Preis", wie er etwa vor Jahresfrist den nordrhein-westfälischen Sparkassen bei einer Einbringung Düsseldorfs in die LBBW noch als möglich erschien, wird nie mehr zu erzielen sein. Auch dass eine etwas restrukturierte Bayerische Landesbank "später" viel mehr wert sein wird, als zu dem Zeitpunkt der ersten Südbank-Initiative des bayerischen Sparkassenpräsidenten, ist nicht leicht anzunehmen. Und wie war das doch in Hessen? Da schien eine Zusammenführung der Landesbanken von Mainz und Frankfurt mit der Deka greifbar nahe. Aber der hessische Ministerpräsident soll damit in vorletzter Minute nicht zufrieden gewesen sein, um stattdessen eine starke Helaba durch Einverleibung von Sparkassen zu präferieren. Nun steht es einsam, das tüchtige "Haus Merl".

Bis sich in der Bundesrepublik Bankzusammenschlüsse realisieren, bis Übernahmen unterschrieben sind, dauert beklagenswert lange. Nur der Eurohypo-Kauf durch die Commerzbank wurde, wenn man von Randerscheinungen wie der Berliner Bank oder der Noris absieht, ebenso zügig abgewickelt, wie jetzt der Erwerb des deutschen Citi-Retails durch die Franzosen. Sind also die privaten Banketagen in Deutschland mindestens genauso zögerlich-umständlich wie die Landespolitiker? Wenn dem so wäre, wären auch die möglichen Endresultate verständlich. Hätte die große Allianz die mittlere Dresdner rechtzeitig dem Blauen Riesen überlassen, wäre sie jetzt ansehnlicher Aktionär derselben. Hätten die Frankfurter und die Düsseldorfer Genossen ihre Zentralbank "gleich" vereint, wäre der Verbund allem Rechnen nach heute um eine gesparte Kosten-Milliarde reicher. Ob die Post bei der Postbank noch lange auf steigende Marktpreise warten sollte, wenn heute schon jeder die Unruhe vor einem Eigentümerwechsel spürt?

Ausgeprägt sei in Deutschland, so hat jemand jüngst angemerkt, der es wissen muss, das Ringen um das letzte Wort in den Verträgen. Ausgeprägt sei die Abneigung der Kombattanten, eine Fusion zu unterschreiben, bevor nicht auch das allerletzte Detail in Buchstaben gesichert worden sei. Anderswo dagegen akzeptiere man, dass ein Vertragswerk diesen Genres immer nur den Stand der Verhältnisse zum Stichtag wiedergeben könne. Die Wirklichkeit des neuen Zusammenlebens entwickele sich dann jedoch schnell unabhängig vom Aufgeschriebenen - und brauche den alten Wortlaut immer weniger. Warum also sich vorher so quälen? Im Übrigen noch eine abseitige Bemerkung: Welche zu Jahresbeginn so sorgfältig gefeilten Ergebnisprognosen zu den Bankbilanzen 2008 müssen nun nicht genauso sorgsam korrigiert werden?

Die Bankbilanzen 2008 versprechen in den allermeisten Fällen, keineswegs gut zu werden. Das ist überhaupt keine Überraschung. Denn erstens drücken bis weit in die Primärbanken der Sparkassen und Genossen hinein saftige Berichtigungen für die Eigenanlagen. Es ist sehr viel mehr indirekt - zum Beispiel über IKB-Papiere - und direkt in Subprimes "investiert" worden, als man so freundlich dachte. Und diese Assets nun bitter zu kritisieren, ist einfach ungerecht. Denn das sogenannte operative Bankgeschäft 2008 leidet unter dem erbarmungslosen Wettbewerb. Dies ist keineswegs nur ein Gruppenwettbewerb, wie die Säulentheoretiker so gern behaupten. Sondern er tobt auch zwischen Sparkassen und Genossenschaften untereinander. Die Margen sind, und dies ist der zweite Grund für schwierige Bilanzen in diesem Jahr, fast überall noch enger geworden. Falls wieder einmal die Leitzinserhöhung die Passivkonditionen schneller als die Aktivsätze steigen lässt - so zeigt es die bisherige Tendenz verringert sich die Auskömmlichkeit des Brot- und Buttergeschäfts weiter.

Also mit aller Kraft hinein in die Provisionen? Als branchenweiter Schlüssel dafür gilt zurzeit offenkundig die Abgeltungssteuer. Ihrer "Vermeidung" widmen sich alle besseren Bankberater: Sie schichten Kundenvermögen massenhaft um. Wer nun weiß, mit welcher Verve die Verbraucherschützer zuletzt das Hard Selling von Zusatzversicherungen für Kreditkunden attackierten, muss das aktuelle "Steuergeschäft" als höchst bedrohlich empfinden. Es wird alsbald eine gewaltige Zahl von "Beratungskunden" feststellen, dass man mit neuen Dachfonds zwar Steuern spart, mitnichten aber Gebühren. Wie tönt es gerade in Bayreuth? "Weia - weia"! K. O.

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