Interview

Redaktionsgespräch mit Michael Kemmer "Eigentlich müssten Rechnungslegungsvorschriften dienende Funktion haben."

2007 müssen die deutschen Landesbanken ihre Abschlüsse erstmals nach den internationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS vorlegen. Zu den Vor- und Nachteilen, dem Aufwand und den Problemen sprach die Redaktion mit dem Finanzvorstand der Bayerischen Landesbank, Michael Kemmer. Er sieht die Anforderungen an die Bilanzierer inzwischen deutlich höher als noch vor einigen Jahren. Das liege zum einen an den deutlich detaillierteren Vorschriften, zum anderen an den penibleren Wirtschaftsprüfern und Aufsehern, die die Umstellung sehr viel genauer überwachen. Das Projekt im eigenen Hause bezeichnet Kemmer als "schwierig, sehr teuer und sehr aufwendig". Insgesamt sei der Wechsel zu den internationalen Standards aber zu begrüßen, weil trotz immer noch vorhandener Wahlrechte die Transparenz der Abschlüsse steige. Allerdings müssten sich Kapitalmärkte und Eigentümer der traditionell eher konservativ bilanzierenden Landesbanken natürlich auch an höhere Volatilitäten gewöhnen. Die Erklärung der Abschlüsse nach drinnen wie nach draußen werde erheblich anspruchsvoller werden, da auf den ersten Blick immer wieder überraschende Elemente enthalten seien. (Red.)

Herr Kemmer, die Umstellung von HGB auf IFRS bei der Bayerischen Landesbank ist für Sie bereits das zweite Projekt dieser Art, nach dem bei der HVB. Gibt es Gemeinsamkeiten, was sind die Unterschiede?

Es gibt zwei Hauptunterschiede. Einmal haben sich die internationalen Rechnungslegungsvorschriften weiterentwickelt, das Regelwerk ist sehr viel engmaschiger und detaillierter geworden. Gravierender ist aber, dass damals bei der ersten Umstellung, als IAS noch relativ neu war, die Dinge doch etwas großzügiger ausgelegt wurden. Es wurde sich weniger am Wortlaut der Regulierungen als vielmehr am wirtschaftlichen Gehalt orientiert. Das ist heute sehr viel anders, die Wirtschaftsprüfer sind deutlich strenger. Das macht die Arbeit des Bilanzierers erheblich anspruchsvoller.

Muss sich also die wirtschaftliche Realität an den Vorschriften orientieren und nicht mehr die Vorschriften an der Realität?

Eigentlich müssten Rechnungslegungsvorschriften dienende Funktion haben und den Zweck haben, die Lebenssachverhalte möglichst ökonomisch richtig abzubilden. In der Tat läuft es heute aber umgekehrt. Unternehmen und vor allem Banken sind mitunter gezwungen, ihre Geschäftsvorfälle so auszusteuern, dass diese auch unter IAS/IFRS das richtige Ergebnis bringen, das heißt, die durch den Geschäftsvorfall ausgelöste Steigerung des Unternehmenswertes auch tatsächlich so in der GuV anzeigen.

Gibt es zu wenig Freiräume?

Nicht unbedingt. Aber es ist so, dass die Regeln dazu führen, dass bestimmte ökonomisch sinnvolle Geschäfte zu einer verzerrten Abbildung in der Gewinn- und Verlustrechnung führen und deswegen nicht gemacht werden.

Welche Konsequenzen hat das für die Vorstandsarbeit, kann jeder noch alles verstehen?

Die Vorstände von heute sind sehr viel arbeitsteiliger aufgestellt als früher. Der Bankvorstand war ein Generalist, der in der Regel vom Kreditgeschäft kommend über das Wertpapiergeschäft bis hin zu den Grundregeln der Rechnungslegung seine Bank gesteuert hatte. Davon kann man heute nicht mehr sprechen. Die Rechnungslegung ist derart anspruchsvoll geworden, dass man das auch auf Vorstandsebene nur noch mit wenigen Mitstreitern diskutieren kann. Das ist aber nicht unbedingt zu beklagen, denn die Welt ist insgesamt komplexer geworden. Die Instrumente, derer wir uns bedienen, beispielsweise Derivate, sind derart vielfältig geworden, dass auch die Abbildungsregeln sehr viel genauer werden müssen. Ich denke aber, dass mit etwas weniger Komplexität in den Vorschriften die Dinge genauso gut abzubilden wären.

Aber laufen die Rechnungsleger der Entwicklung nicht immer hinterher? Das Regelwerk wird komplexer, Spezialisten suchen nach immer neuen Auswegen, die Vorschriften ziehen als Folge weiter an, kann man diesen Teufelskreis durchbrechen?

Das ist das Problem der auf Einzelfällen basierenden Regelungen. Es wird immer wieder den einen neuen Fall geben, der berücksichtigt werden muss. Da hatte das alte HGB, bei allen Schwächen, deutliche Vorteile. Durch die Prinzipienorientierung wurden die Dinge viel stärker an ihrem wirtschaftlichen Gehalt gemessen, viele Schlupflöcher, die sich bei einer Flut von Einzelfallregelungen zwangsläufig ergeben, sind so gar nicht erst aufgetreten. Diesbezüglich und nur diesbezüglich hat das HGB Vorteile, insgesamt ist aber die Orientierung an den internationalen Standards aus vielen Gründen ein Fortschritt auch und gerade für die deutsche Rechnungslegung.

Gibt es nennenswerte Unterschiede im Finanzressort einer international agierenden Landesbank und einer privaten Großbank? In der Rechnungslegung als solcher eigentlich nicht, auch wenn das natürlich im Detail vom jeweiligen Geschäftsmodell abhängt. Wenn bei einer Landesbank beispielsweise starkes Retailgeschäft zu berücksichtigen ist, dann stehen andere Dinge im Vordergrund als bei einem Institut, das ein klassischer Wholesaler ist.

Wie verlief die Umstellung auf IFRS bei der Bayern-LB?

Es ist nach wie vor ein schwieriges Projekt, sehr teuer und sehr aufwendig. Das Budget ist um ein vielfaches höher als das beispielsweise damals bei der HVB der Fall war. Das liegt zum einen an der deutlich größeren Zahl an Vorschriften, zum anderen an der penibleren Überwachung der Umsetzung. Ein kleiner Trost: Dies ist kein Bayern-LB-spezifisches Phänomen, da leiden alle Häuser drunter.

Sind alle gleichermaßen betroffen?

Im Grunde genommen ja, aber es gibt natürlich das Betriebsgrößen-Problem. Eine im internationalen Vergleich mittelgroße Bank wie die Bayern-LB muss für die IFRS-Umstellung oder auch Basel II die gleiche Komplexität bewältigen wie die großen Häuser, kann den Aufwand aber nur auf weniger Geschäftsvolumen verteilen.

Wo liegen die Stolpersteine bei der Umstellung?

Es wird sicherlich eine Herausforderung sein, die Abschlüsse zeitgerecht vorlegen zu können. Die Landesbanken arbeiten überwiegend mit neuer Technik, das wird zur ein oder anderen Verzögerung führen. Die Informationsbeschaffung, um alle Anforderungen an die Notes erfüllen zu können, ist sehr viel umfangreicher. Es wird in der Erklärung nach drinnen wie nach draußen anspruchsvoller werden, denn jeder IAS-Abschluss enthält auf den ersten Blick überraschende Elemente. Das herauszuarbeiten wird ebenfalls eine große Herausforderung. Beides zusammen - Zeitnot und hoher Erklärungsbedarf - zeigt, dass wir uns vor spannenden Monaten befinden.

Ändert sich nach IFRS die Bilanzierung stiller Einlagen?

Es ist zunächst einmal festzustellen, ob die stillen Einlagen wie Eigen- oder wie Fremdkapital behandelt werden. IAS weicht vom deutschen Bankaufsichtsrecht ab, demzufolge kann nicht alles, was aufsichtsrechtlich zum Eigenkapital gezählt wird, auch nach IAS einbezogen werden. Es wurde nach langen Verhandlungen nun eine Regelung mit dem IAS-Board und den Wirtschaftsprüfern gefunden, die es ermöglicht, stille Einlagen überwiegend als Eigenkapital auszuweisen.

Wo ist mit Überraschungen zu rechnen, sind die Abschlüsse vergleichbar mit den Vorjahren?

Der IAS-Abschluss ist nicht vergleichbar mit dem HGB-Abschluss. Alle Häuser legen die 2006er-Bilanzen als Vergleichsbasis ebenfalls nach IAS vor, sodass hier ein Vergleich möglich ist. Allerdings verbunden mit, wie erwähnt, sehr vielen Erklärungen.

Wie werden die Eigentümer der Landesbanken auf die IFRS zugeschriebene höhere Volatilität der Ergebnisse reagieren?

Daran werden sich nicht nur die Eigentümer, sondern der gesamte Kapitalmarkt gewöhnen müssen. Landesbanken waren in der Vergangenheit stets etwas konservativer in der Bilanzierung und haben die Wahlrechte des HGB ausgeschöpft, gerade mit Blick auf die Bildung von Reserven.

Gibt es "Aufklärungsveranstaltungen", um die Eigentümer auf die Veränderungen vorzubereiten?

Ja. In unserem Hause gab es auf Wunsch des Verwaltungsratsvorsitzenden bereits im September die erste Informationsveranstaltung.

Kann der gewöhnliche Aufsichtsrat noch eine Bankbilanz lesen?

Er tut sich zumindest mit zunehmender Komplexität ein bisschen schwer damit. Doch die Aufsichtsräte sind in der Regel sehr gut vorbereitet auf die Sitzungen und stellen die richtigen Fragen. Ich bin immer wieder überrascht, wie gut ausgeprägt der Instinkt für Gutes und weniger Gutes ist.

Sollten Aufsichtsräte großer Unternehmen professionalisiert werden?

Ich glaube nicht, dass man generell zu hauptberuflichen Aufsichtsräten übergehen sollte, denn die Erfahrung, die ein nebenberufliches Aufsichtsratsmitglied aus seiner Haupttätigkeit mitbringt, ist für die Unternehmen im Regelfall sehr wertvoll. Gerade Banken können von Erfahrungen aus anderen Branchen profitieren.

Zurück zu den Volatilitäten: Wünschen Sie sich manchmal in die HGB-Welt zurück?

Nein, keinesfalls, auch wenn ich bestimmt kein absoluter Verfechter der Bilanzierung nach IFRS in der gerade aktuellen Form bin.

Doch auch die HGB-Regelungen hatten ihre Schwäche und haben für Probleme gesorgt. Mehr Transparenz schafft grundsätzlich, von Ausnahmenfällen einmal abgesehen, mehr Vertrauen. Transparenz darf aber nicht mit Kurzatmigkeit verwechselt werden.

Aber wird der Druck auf das Management von Seiten der interessierten Öffentlichkeit und der Aktionäre nicht immer größer, je transparenter alles wird?

Unternehmen müssen auch selbstbewusst sein und diesem Druck standhalten. Eine übertrieben hastige Informationspolitik verwirrt bisweilen mehr als sie hilft. Ein Unternehmen sollte die Nachrichten so lange zurückhalten, bis verlässliche Daten vorhanden sind. Auch wenn das natürlich gerade in bewegten Zeiten sehr schwer ist.

Ist die Transparenz denn unter IFRS wirklich besser - man mag es angesichts aktueller Entwicklungen bezweifeln? Und Ausweichmöglichkeiten gibt es auch unter den internationalen Rechnungslegungsvorschriften.

Zum einen gibt es nach wie vor so viele Wahlrechte, dass es sicherlich nicht ausreicht, nur auf den Jahresüberschuss zu schauen. Auch die Vergleichbarkeit der Abschlüsse ist nicht besser als bei HGB. Man kann auch unter IFRS Bilanzen gestalten. Zum anderen bin ich aber der festen Überzeugung, dass sich die Transparenz erhöht hat, ganz einfach weil der Detaillierungsgrad sehr viel größer geworden ist. In einem Bild gesprochen: Unter HGB war die Rechnungslegung ein Klavier mit 15 Tasten, unter IFRS mit 100 Tasten. Unter HGB war das Erlernen des Klavierspielens sehr viel leichter, allerdings war bei nur 15 Tönen die Melodie etwas eintönig. IFRS ist komplexer, dafür aber auch wohlklingender. Dass heißt, wenn der Nutzer die Zeit mitbringen kann, die immer dicker werdenden Geschäftsberichte zu lesen und sich mit den Vorschriften und Regeln vertraut macht, kann er wesentlich mehr herausziehen.

Worauf sollte ein Außenstehender bei einem IFRS-Abschluss achten?

Hinsichtlich der Reservenbildung gibt es immer noch einige Gestaltungsmöglichkeiten, beispielsweise den Rechnungszinsfuß für Pensionsrückstellungen. Dieser ist zwar stets mit aktuellen Marktwerten abzubilden, allerdings werden Abweichungen von einem halben oder viertel Prozentpunkt toleriert.

Auch bei der Risikovorsorge gibt es noch verschiedene Wahlrechte. Diese ist unter IFRS zwar technisch anders definiert als unter HGB - es müssen die zukünftigen Cash-Flows zum heutigen Barwert erfasst werden -, aber beispielweise bei der Bewertung von Immobiliensicherheiten gibt es Ermessensspielräume, sodass hier de facto eine Reservenbildung möglich ist.

Welche GuV-Position ist in den kommenden Abschlüssen besonders beachtenswert?

Die "Avaliable-for-sale-Rücklagen" sind vor dem Hintergrund der Ereignisse des Jahres 2007 sicherlich interessant. Wobei insgesamt die Aussagekraft der eigentlichen GuV-Positionen im Vergleich zu HGB nachlässt, die Bedeutung der Notes dagegen um ein Vielfaches steigt.

Des Weiteren kann die Umstellung des Handelsergebnisses und die Erfassung der Derivate "at Fair-Value" spannend werden. Hier gilt es, in den Notes die Auswirkungen des IAS 39 wie beispielsweise die Hedgeeffekte zu beachten. Ansonsten bleiben es die bekannten Positionen Zinsüberschuss, Provisionsüberschuss, Risikovorsorge und Verwaltungsaufwand.

Sie haben die Flut an neuen Vorschriften bereits beklagt. Würde die derzeit diskutierte Schaffung eines von der EU-Kommission dominierten Kontrollgremiums des IAS-Boards dies verbessern oder den Prozess durch zusätzlich notwenige Schritte eher weiter verlangsamen?

In der deutschen Tradition haben die Rechnungslegungsvorschriften große Auswirkungen auf Rechtsverhältnisse, beispielsweise von Anteilseignern einer Unternehmung untereinander, und auch die Steuerbilanz. Sie enthalten also Elemente der sogenannten Eingriffsverwaltung. Hierzulande ist man gewohnt, dass diese Regeln vom Gesetzgeber auf demokratischem Wege über die Parlamente verabschiedet werden.

Damit verträgt es sich ganz schlecht, dass ein privatrechtlich organisiertes Gremium wie das IAS-Board nun Regeln erlässt, die dann materielle Gesetzeskraft in den einzelnen Mitgliedsstaaten erlangen. Das ist der Hintergrund der aktuellen Diskussion, bei der versucht wird, von europäischer Seite die EU-Kommission und das Parlament stär ker in Stellung zu bringen.

Es ist zu befürchten, dass der Prozess dadurch nicht einfacher und der Bürokratieaufwand sicherlich nicht verringert wird. Aber es ist unbedingt notwendig, den europäischen Einfluss im IAS-Board zu erhöhen, das doch sehr stark aus der angloamerikanischen Tradition heraus geprägt ist. Es ist richtig, dass die Europäer an dieser Stelle mehr Selbstbewusstsein zeigen. Auch weil sich das IAS-Board in der Vergangenheit nicht immer geschickt verhalten und teils sehr hoheitlich agiert hat.

Wo liegen die Kritikpunkte?

Das Standardsetting beim IAS-Board erfolgt eigentlich auf sehr transparente Weise. In Arbeitsgruppen werden Vorschläge gemacht, die anschließend öffentlich gemacht werden, sodass jede Interessengruppe Stellung nehmen kann. In Deutschland erfolgt dies für unsere Branche unter anderem über die Verbände der Kreditwirtschaft. Das Problem ist zum einen, dass diese Interessengruppen nur gehört werden, entscheiden tut allein das IAS-Board, und die Kriterien, nach denen hier entscheiden wird, sind nicht immer nachvollziehbar.

Hinzu kommt, dass die Arbeit der Standardsetter wie angesprochen immer detaillierter wird. Damit bedarf es einer großen Anzahl an Spezialisten, um dies noch zu durchschauen. Zum Beispiel: Als wir vor einigen Jahren in der Diskussion um den IAS 39 ein Papier mit Argumenten nach London zum IAS-Board geschickt haben, kamen über 400 Seiten mit Anwendungsbeispielen zurück, die selbst von Spezialisten nicht mehr zu verstehen waren. Das hemmt letztendlich den Prozess und das kostet viel Geld.

Sollten Zweckgesellschaften und Special Investment Vehicles konsolidiert werden?

Im Grunde genommen ja. Aber auch das ist kein neues Thema. Im Zusammenhang mit den IAS-Regeln gibt es den berühmten "SIC-12", eine Art "Verwaltungsanweisung" beziehungsweise eine Interpretationshilfe für die konkreten Vorschriften. Hier ist erläutert, wann eine Zweckgesellschaft zu konsolidieren ist und wann nicht. Allerdings nur mit relativ weichen Kriterien. Die Kunst derer, die diese Conduits aufgelegt haben, bestand darin, durch bestimmte Konstruktionen eben diese Konsolidierung zu vermeiden. Immer dann, wenn Chancen und Risiken aus der Zweckgesellschaft beim Unternehmen liegen, sollte meiner Meinung nach konsolidiert werden. Die Bayern-LB wird sich bis auf wenige Ausnahmen danach richten und ich denke, auch die anderen Banken werden nun den Empfehlungen folgen.

Um wie viele Conduits bei der Bayern-LB handelt es sich?

Zwei in New York und eines in London mit weiteren Untergesellschaften. Die beiden in New York werden vollständig konsolidiert, das in London zu fünf Sechstel, hier bleibt eine Untergesellschaft, die sehr weit weg von der Bank ist, außen vor. Diese dürfen wir nicht einbeziehen.

IFRS-Umstellung, Subprime, allgemeine Finanzierungskrise - muss man die Abschlüsse 2007 der deutschen (Landes-)Banken mit Sorge erwarten?

2007 war sicherlich kein brillantes Bankenjahr.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X