Aufsätze

Unabhängigkeit und Legitimität der EZB im Rahmen der Staatsschuldenkrise

Demokratisch gewählte, vom Wiederwahlzyklus abhängige Regierungen unterliegen dem Problem der Zeitinkonsistenz. Beispielsweise konterkariert eine kurzfristig angelegte, der konjunkturellen Stimulierung dienenden Geldpolitik bei einer überoptimalen Inflationsrate eine Politik des langfristigen, gleichgewichtigen Wachstums bei Geldwertstabilität. Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen einem kurzen Entscheidungs- sowie Durchsetzungslag und einer langen Wirkungsverzögerung, die die Zurechenbarkeit entsprechender geldpolitischer Maßnahmen erschwert. Die Delegation monetärer Entscheidungskompetenzen an eine unabhängige Zentralbank kann dementsprechend als eine Form der institutionellen Selbstbindung interpretiert werden, um das Ziel der Geldwertstabilität Erfolg versprechend verfolgen zu können.

Regelbindung und Rechenschaft

Da die geldpolitischen Entscheidungsträger im Regelfall nicht demokratisch gewählt sind, erwächst mit der Unabhängigkeit der Zentralbank das Problem der Legitimität und Legalität ihres Handelns. Hierbei gelten die Regelbindung (ex ante) und die Rechenschaft (ex post) als Mittel einer demokratischen Kontrolle und als strikt komplementäre Bedingung zur Unabhängigkeit, sollen die Reputation und die Glaubwürdigkeit einer Zentralbank gewahrt bleiben.1) Die Unabhängigkeit am Beispiel der EZB zeigt sich in verschiedener Hinsicht:2)

a) institutionell: Zentraler Punkt der Unabhängigkeit ist die Freiheit von Weisungen durch Dritte. Ebenso ist die Beeinflussung der Mitglieder des EZB-Rates verboten. Damit wird eine von direkten Regierungsvorgaben unabhängige Geldpolitik der Zentralbank sichergestellt.

b) funktionell: Die EZB hat vorrangig das Ziel die Preisstabilität zu verfolgen (Art. 127 Abs. 1 AEUV). Nur soweit dieses Ziel nicht gefährdet wird, hat sie die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union zu unterstützen. Einher geht das Verbot einer durch die Notenbank finanzierten Haushaltspolitik (Art. 123 AEUV).

c) personell: Die Einsetzung des Personals erfolgt zwar nicht regierungsunabhängig, allerdings besteht der EZB-Rat aus den Präsidenten der teilnehmenden nationalen Notenbanken; die sechs Direktoriumsmitglieder werden einvernehmlich durch die Staats- und Regierungschefs ernannt. Zudem beträgt die Amtsdauer der Direktoriumsmitglieder acht Jahre, die der nationalen Präsidenten mindestens fünf Jahre. Unterstützung erfährt die unabhängige Position, da zumindest für die Ersteren eine Wiederwahl unzulässig ist. Zudem ist eine Entlassung nur bei schweren Verfehlungen möglich.

d) finanziell: Zur Erfüllung ihrer Aufgaben kann die EZB alle erforderlichen Geschäfte vornehmen, speziell auch die den eigenen Betrieb betreffend. Sie besitzt damit Budgethoheit unabhängig von einer parlamentarischen Bewilligung.

Die Verantwortlichkeit im Sinne einer demokratischen Kontrolle umfasst nach Bini Smaghi drei Bereiche: erstens eine ex ante Kontrolle im Sinne definierter und demokratisch legitimierter Regeln, Standards und Prinzipien; zweitens die Verantwortung beziehungsweise Rechenschaft gegenüber demokratisch legitimierten Institutionen wie Parlament oder Regierung sowie drittens eine Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit.3)

Demokratische Anbindung und Legitimation des Handelns

Eine Regelbindung durch extern vorgegebene Zielvorgaben und Zielwertigkeiten dient der demokratischen Anbindung und Legitimation des Handelns der Zentralbank. Vorrangiges Ziel der EZB ist die vertraglich vorgegebene Preisstabilität. Eine nähere Operationalisierung durch gesetzliche Statuten erfolgt jedoch nicht. Die konkrete Auslegung dieser Norm sowie die Festlegung weiterer geldpolitischer (Zwischen-) Ziele obliegen demnach der EZB, die sie gegebenenfalls in ihren Berichten und präsidialen Äußerungen publiziert.

Beispielsweise hat sie ihre geldpolitische Strategie auf das Inflationsziel von unter zwei Prozent festlegt, gemessen am Harmonised Index of Consumer Prices (HICP). Bei dieser nur vagen externen Vorfestlegung erhält die EZB ein hohes Maß an funktioneller Unabhängigkeit. Sodann spricht die klare Dominanz des Ziels der Preisstabilität für eine klare Regelbindung gegenüber möglichen anderen Zielen.

Die Verantwortlichkeit zeigt sich in erster Linie durch die Rechenschaftslegung ihres Handelns. Die ökonomische Datenlage ist zu belegen und zu interpretieren, geäußerte Erwartungen sind ebenso wie die darauf aufbauenden Entscheidungen hinreichend zu begründen. Schließlich sind die selbst operationalisierten Zielvorgaben mit den Daten abzugleichen. Wenngleich diese Bringschuld weitgehend unstrittig ist, so prallen hinsichtlich der Transparenzmaßstäbe das angelsächsische und das konti-nental-europäische Konzept über die konkrete Ausgestaltung der Rechenschaft aufeinander. Auf der einen Seite hebt Issing4) den "Esprit de Corps" des EZB-Rates und den "Common Sense" seiner Mitglieder hervor. Diese beinhalten eine konsensuelle Beschlussfindung, die kollektive Verantwortung des Gremiums und setzen den Präsidenten in die Funktion als Sprecher des Organs.

Geringe Transparenz

Entsprechend gering ist die nach außen gezeigte Transparenz. Sitzungsprotokolle werden nicht veröffentlicht, lediglich die Ergebnisse durch den Präsidenten bekannt gegeben. Die Geheimhaltung des Abstimmungsverhaltens einzelner Mitglieder garantiere deren Unabhängigkeit und diene dem Schutz vor dem Einfluss nationaler Interessen. In seiner Gegenposition kritisiert Buiter5) insbesondere die fehlende Prozesstransparenz. So seien Informationen über den Verlauf der Sitzung wichtig, um einen Dissens auch nach außen sichtbar zu machen. Deshalb plädiert er für die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle. Inhaltlich sollten die Zeitangaben für die Abhandlung der einzelnen Tagesordnungspunkte sowie das Abstimmungsverhalten mit aufgenommen werden. Letzteres sei wichtig, um gerade bei Minderheitenvoten eine externe Sachdiskussion anzuregen. Zudem sei eine Geheimhaltung faktisch kaum möglich, da die Beraterstäbe entsprechend groß seien und je ein Mitglied der Kommission und des EU-Ministerrates Zutritt zu den Sitzungen hätten.

Ihren Berichtspflichten (Art. 15 Satzung des ESZB und der EZB) kommt die EZB durch die Veröffentlichung eines wöchentlichen konsolidierten ESZB-Ausweises sowie der Monats- und Vierteljahresberichte nach. Darüber hinaus gibt sie dem EU-Parlament, dem Rat und der Kommission jährlich Bericht über ihre Tätigkeit. Zudem findet vierteljährlich ein monetärer Dialog mit dem EU-Parlament statt. Des Weiteren sind auf Anfrage eine Beratung sowie eine Konsultation durch EZB-Ratsmitglieder auf Verlangen von EU-Rat, Kommission und der nationalen Behörden hinsichtlich von Fragen der Bankenaufsicht und der Stabilität des Finanzsystems vorgesehen (Art.25 Satzung des ESZB und der EZB).

Untersuchungen anhand der gesetzlichen Bestimmungen zeigen für die EZB im Vergleich zur amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed) und insbesondere zur Bank of England (BoE) einen relativ hohen Grad der Unabhängigkeit.6) Im Gegensatz dazu fällt die Intensität der institutionell verankerten Rechenschaftspflicht/Transparenz der EZB relativ gering aus. Zugleich zeigen empirische Analysen für Industrieländer einen robusten negativen Zusammenhang zwischen den Indikatoren der Zentralbank-Unabhängigkeit und der Inflation.7)

Da es sich hierbei um korrelative Zusammenhänge handelt, kann über die Richtung einer möglichen Verursachung allenfalls spekuliert werden. Denkbar wäre nämlich, dass ein starker Finanzsektor sowie die Öffentlichkeit bei einer entsprechenden Stabilitätskultur als intervenierende Variable politischen Druck zugunsten einer solchen institutionellen Ausgestaltung ausüben. Damit gilt die Unabhängigkeit der Notenbank lediglich als eine notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung für eine Preisstabilität. Sollte der gesellschaftliche Konsens einer Stabilitätskultur nicht mehr gegeben sein, dann könnte demzufolge auch die Unabhängigkeit der Notenbank die Preisstabilität nicht mehr sicherstellen. Dies gilt umso mehr, wenn die Notenbank-Akteure ihre regelgebundenen Pflichten zugunsten anderer Ziele vernachlässigen. Diese Frage gewinnt aufgrund der unkonventionellen Maßnahmen der Geldpolitik der EZB an Aktualität.

Das Handeln der EZB im Rahmen der Krisenintervention Mit Blick auf die Schuldenkrise einzelner Euro-Mitgliedstaaten hat die EZB wesentliche Grundsätze ihrer bisherigen Politik zugunsten von unkonventionellen Maßnahmen der Krisenintervention aufgegeben:

- durch eine Absenkung ihrer Anforderungen an die Beleihungssicherheiten (qualitative easing) sowie

- durch den Ankauf von Staatsanleihen (quantitative easing) auf dem Sekundärmarkt.

Seit dem 3. Mai 2010 können griechische Staatsanleihen unabhängig der externen Bewertung durch Ratingagenturen zur Refinanzierung eingereicht werden. Auf Beschluss des EZB-Rats wurde am 10. Mai 2010 mit dem Ankauf griechischer, portugiesischer und irischer Anleihen durch die Notenbanken Deutschlands, Frankreichs und Italiens begonnen. In den ersten sechs Monaten hat die EZB im Umfang von zirka 63,5 Milliarden Euro entsprechende Ankäufe mit abnehmender Intensität getätigt. Erst mit der Irland-Krise im November 2010 nahm das Ankaufvolumen wieder spürbar zu und endete für 2010 mit einem Volumen von 73,5 Milliarden Euro. Etwa die Hälfte des Volumens entfällt auf griechische Staatsanleihen, die weitere Hälfte auf portugiesische und irische und seit Beginn 2011 in geringerem Maße auch auf spanische Staatsschuldtitel.

Faktisch eine neue Geschäftsgrundlage

Die Bedingungen dieser Finanztransaktionen bleiben weitgehend intransparent. Weder werden die Eingriffsschwellen genannt, ab derer die EZB am Anleihemarkt interveniert, noch die Ankaufkonditionen beziehungsweise die Beleihungsabschläge veröffentlicht. Marktteilnehmern fällt jedoch auf, dass die EZB ab einer Risikoprämie von vier bis fünf Prozentpunkten für Anleihen mit zehn Jahren Laufzeit (siehe Irland im Dezember 2010 sowie Portugal im Januar 2011) in den Anleihemarkt interveniert. Diese Marke wird mit der Anforderung zusätzlicher Sicherheiten durch die Londoner Handelsplattform LCH-Clearnet begründet, auf der besicherte Kreditgeschäfte zwischen Banken abgewickelt werden.

Beide Maßnahmen könnten gegen eine Reihe von gemeinschaftlichen Regeln verstoßen, sodass faktisch eine neue Geschäftsgrundlage geschaffen würde. Folgende Grundsätze und Artikel des EU-Vertrages in der Fassung von Lissabon (EUV) sind betroffen:

- die Unabhängigkeit der EZB (Art. 127; 130; 282 Abs. 2 AEUV);

- das Ziel der Preisstabilität (Art. 119 Abs. 2/3; 127 Abs. 1/2; 282 Abs. 2 AEUV) sowie

- das Verbot der monetären Finanzierung von Staatshaushalten (Art. 123 Abs. 1 AEUV).

Selbstentbindung von (vertraglichen) Regeln

Problematisch an der Krisenpolitik der EZB ist deren Selbstentbindung von fundamentalen Rechtsgrundsätzen im Alleinentscheid ohne Mandat, deren ökonomischen Konsequenzen die Fundamente einer unabhängigen Geldpolitik folgenschwer verletzen. Es fehlen die Legitimität und die Legalität zur Ergreifung von Maßnahmen aufgrund eines Ausnahmenotstandes, den die EZB ohne eine externe Prüfung durch unabhängige Sachverständige festgestellt hat. Das die Unabhängigkeit der EZB sichernde, regelgebundene Verhalten wurde suspendiert.

Hinzu kommt die nicht erfolgte zeitliche und mengenmäßige Begrenzung dieser Politik, die einen Ausstieg nicht nur erschwert, sondern aufgrund der Anpassung der Marktteilnehmer gegebenenfalls völlig entgleiten lässt. Institutionenökonomisch stellt sich aus der Sicht des EZB-Rates und des EU-Rates die Frage einer Kosten-Nutzen-Abwägung dieser kurzfristig orientierten Abkehr vom vertraglichen Status. Insbesondere der langfristig sich einstellende Reputationsschaden wäre dabei zu berücksichtigen. So zeigt ein Vergleich der kontinuierlich stattfindenden Erhebungen des Eurobarometers zum Vertrauen für die vergangene Mai-Umfrage einen erheblichen Einbruch der EZB-Reputation bei der Bevölkerung. Hierbei fielen die Werte in Deutschland wesentlich stärker ab als beispielsweise in Frankreich und in Italien.

Eine von jeglichen Normen und Institutionen losgelöste Feststellung eines Versagens der Geld- und Kapitalmärkte sowie ein darauf gerichtetes, geldpolitisch diskriminierendes Handeln mit vertraglich zweifelhafter Legitimität geben den Anschein des Willkürlichen.

In diesem Zusammenhang wird die satzungsbedingte, mangelnde Konnexität zwischen der Unabhängigkeit der EZB einerseits und der Notwendigkeit ihrer Rechenschaftslegung im Rahmen einer demokratischen Institutionenkontrolle gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit andererseits sehr deutlich. Gerade in nicht routinemäßigen Ausnahmesituationen macht dieser Mangel die Entscheidungen der EZB angreifbar.

Verlust der Unabhängigkeit und der Preisstabilität

Hinsichtlich einer Beendigung dieser unkonventionellen Maßnahmen der Geldpolitik ist aufgrund der bisherigen, sich verschärfenden politischen Kriseninterventionen davon auszugehen, dass eine Verweigerung gegenüber weiteren oder fortwährenden Krisenstaaten als kaum mehr möglich erscheint. Dies zeigt nicht zuletzt die Irlandkrise, aufgrund derer die Ankäufe auf dem Sekundärmarkt wieder stark anzogen. Da die EZB die Lockerungen nicht an Bedingungen geknüpft hat, ist eine Disziplinierung dieser Staaten zudem kaum möglich.

Mit einer Mindestpreispolitik für "Ramschanleihen" stemmt sich die EZB gegen eine fundamental wahrscheinliche Insolvenz dieser Emittenten. Dabei stellt sich den Marktteilnehmern und speziell den Spekulanten die Frage, wie lange die EZB diese Politik der Marktintervention durchhalten kann. Schließlich drohen bei einem Verkauf stark in die Höhe gehende Risikoprämien. Interessenkonflikte zwischen der Verfolgung des Ziels der Preisstabilität und der Vermeidung von Verlusten aus Anleihegeschäften durch eine inflationäre Politik liegen auf der Hand.

Auch Bundesbankpräsident Weber äußerte Zweifel in einem Interview der Börsen-Zeitung vom 11. Mai 2010: "Der Ankauf von Staatsanleihen birgt erhebliche stabilitätspolitische Risiken, und ich sehe diesen Teil des Beschlusses kritisch". Die Glaubwürdigkeit einer solchen Politik setzt voraus, dass den Marktteilnehmern der Wille zu einer langfristig ausgerichteten und alle Risikoländer umfassenden Ankaufpolitik vermittelt wird. Mit dieser Monetarisierung von Staatsschulden entsteht jedoch ein direkter Zielkonflikt zur Preisstabilität.

Formal kein Verstoß

Da der Ankauf der Anleihen auf dem Sekundärmarkt erfolgt, liegt formal zwar kein Verstoß gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Staatshaushalten (Art. 123 AEUV) vor. Allerdings verschwimmt der Unterschied zu Ankäufen auf dem Primärmarkt, das heißt der direkte Zugang der Regierungen zur "Notenpresse", in der vorliegenden Situation. So kann die EZB im Rahmen von Offenmarkt- und Kreditgeschäften "auf den Finanzmärkten tätig werden, indem sie auf Euro oder sonstige Währungen lautende Forderungen und börsengängige Wertpapiere" (Art. 18 Abs.1 Satzung des ESZB und der EZB) kauft oder verkauft. Die Staatsanleihen werden jedoch nicht nach gleichmäßiger Streuung über alle Euro-Staaten von der EZB aufgekauft, sondern programmgemäß nur diejenigen zahlungsgefährdeter Staaten. Bei den fraglichen Anleihen handelt es sich somit gerade nicht um börsengängige Wertpapiere.8)

Im Umkehrschluss bedeutet der Ankauf nicht marktgängiger Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt eine Umgehung des Verbots der monetären Finanzierung von staatlichen Haushalten. Da diese Wertpapierkurse durch die Intervention steigen und deren Zinsen dadurch sinken, ist der Kauf durch die EZB für die unterstützten Euro-Länder budgetwirksam, soweit eben die Zinsen sinken.

Mit der Offenmarktpolitik wird somit keine Geldmengensteuerung im üblichen Sinne vorgenommen, sondern eine Offenhaltung des Kreditzugangs für zahlungsgefährdete Staaten verfolgt. Entsprechende Regierungen können Druck auf ihre nationalen Geschäftsbanken ausüben, damit diese die neu begebenen Staatsschulden in ihre Bücher nehmen, um sie sofort der EZB zur Refinanzierung einzureichen oder zum Ankauf anzubieten. Dies verstößt in gravierender Weise gegen das Gebot der Unabhängigkeit der Zentralbank.

Direkter Zielkonflikt

Um aus dieser Falle wieder herauszukommen, besitzt die EZB infolgedessen zukünftig ein gesteigertes Interesse an einer inflationären Entschuldung dieser Länder. Zudem steht sie unter dem Druck dieser Regierungen, wegen des Wertpapier-Zins-Mechanismus weiterhin Anleihen aufzukaufen. Etwaige Forderungsverluste aus den Beleihungssicherheiten und Anleihekäufen machen die EZB zur Bad Bank. Entstehende Verluste führen letztendlich zu einem Verzehr ihrer Rücklagen und ihres Kapitals. Lehnen die Regierungen einen Kapitalnachschuss ab, so entstände ein negatives Kapital.9)

Die Zentralbank könnte alternativ über die Ausgabe von Noten die Geldbasis erhöhen und damit langfristig einen inflationären Geldüberhang erzeugen. In diesem Fall würde die Kostenüberwälzung des Forderungsausfalls nicht über Steuern, sondern über einen Quasi-Kaufkraftverlust des Geldes erfolgen. Die Anfang Dezember 2010 beschlossene Verdoppelung des EZB-Kapitals durch Kapitalzuschüsse der nationalen Notenbanken zeigt das Problemverständnis der Verantwortlichen. Allerdings erfolgt die Alimentation zulasten von SeigniorageÜberweisungen an die nationalen Staatshaushalte und ist damit fiskalisch kostenwirksam.

Da die EZB beabsichtigt, die aufgekauften Wertschriften bis zur Fälligkeit zu halten, und ein Verkauf außerdem schwierig oder gar unmöglich wäre, leidet die geldpolitische Steuerungsflexibilität erheblich. Gerade vor dem Hintergrund der in der Bankenkrise erheblich ausgeweiteten Geldbasis kann die Notwendigkeit in naher Zukunft bestehen, durch die Rücknahme der Geldbasis eine Geldmengenexpansion zu vermeiden. Dies dürfte unter diesen Bedingungen stark erschwert werden.

Selbstentbindung von gültigen Grundsätzen

Das Ergebnis dieser unkonventionellen Politik der Krisenintervention der EZB zeigt in gravierender Weise eine Selbstentbindung von gültigen (Vertrags-)Grundsätzen. Die Kriseninterventionen dienen einer Staatsschuldenpolitik faktisch insolventer Euro-Mitgliedstaaten. Die EZB begibt sich mit dieser Politik in Abhängigkeit dieser Staaten. Sie gibt damit ihre vertraglich garantierte Unabhängigkeit auf. Zugleich steht die Staatsschuldenpolitik der EZB in direktem Zielkonflikt zu ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Erhalt der Preisstabilität.

Literatur

Belke, Ansgar (2010), How Much Fiscal Backing Must the ECB Have? The Euro-Area Is Not the Philippines, DIW-Discussion-Papier, Nr. 996, April 2010. Berger, Helge (1997), Die aktuelle Debatte um Zentralbankunabhängigkeit: Theoretische und empirische Fragen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 42. Jg. (1997), S.89 bis 111.

Bini Smaghi, Lorenzo (1998), The Democratic Accountability of the European Central Bank, in: Quarterly Review Banca Nazionale del Lavoro, 51. Jg. (1998), S. 119 bis 143.

Buiter, Willem H. (1999), Alice in Euroland, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 37 (1999), S.181 bis 209.

De Haan, Jakob und Eijffinger, Sylvester C. W. (2000), The Demokratic Accountability of the European Central Bank: A Comment on Two Fairy-tales, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 38 (2000), S. 393 bis 407.

Görgens, Egon und Ruckriegel, Karlheinz (2005), Zur Notwendigkeit unabhängiger Zentralbanken und ihrer institutionellen Abstützung, Diskussionspapier der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth, Nr. 17-05, Bayreuth.

Issing, Otmar (1999), The Eurosystem: Transparent and Accountable or 'Willem in Euroland', in: Journal of Common Market Studies, Vol. 37 (1999), S. 503 bis 519.

Seidel, Martin (2010), Der Ankauf nicht markt- und börsengängiger Staatsanleihen, namentlich Griechenlands, durch die Europäische Zentralbank und durch nationale Zentralbanken - rechtlich nur fragwürdig oder Rechtsverstoß?, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Vol. 21 (2010). Nr. 14, S.521 bis 522.

Fußnoten

1) Vgl. Issing (1999), S. 508f. sowie Bini Smaghi (1998), S. 119.

2) Vgl. De Haan u. Eijffinger (2000), S. 394f.; Görgens u. Ruckriegel (2005), S. 8ff.

3) Vgl. Bini Smaghi (1998), S. 120f.

4) Vgl. Issing (1999).

5) Vgl. Buiter (1999).

6 )Vgl. hierzu Berger (1997), S. 101ff.; Görgens und Ruckriegel (2005), S. 10f sowie De Haan und Eijffinger (2000), S. 396ff. Die Analyse anhand der formal-rechtlichen Vorgaben ist jedoch nicht unproblematisch. Hiervon abweichende informelle Praktiken bleiben bei dieser Methode ohne Berücksichtigung.

7 )Vgl. Berger (1997), S. 104ff.

8) Zur vertragsrechtlichen Problematik des Ankaufs nicht markt- und börsengängiger Staatsanleihen vgl. kritisch Seidel (2010).

9) Dies unterstützt die Überlegung, dass Notenbanken nicht Konkurs gehen können. Vgl. hierzu auch Belke (2010).

Eine Fassung mit einem umfangreicheren Fußnoten- und Literaturapparat findet sich unter folgender Adresse zum Abruf beim Verlag unter www. kreditwesen.de oder auf der Homepage des Verfassers http://www.hsu-hh.de/ meyer/index_bp4ONfF9xPTymFBQ.html.

Prof. Dr. Dirk Meyer , Institut für Volkswirtschaftslehre , Helmut-Schmidt-Universität
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