Aufsätze

Unabhängigkeit der Notenbanken notwendige Voraussetzung oder überholter Status in einem größer werdenden Europa?

Karl Otto Pöhl gehört zu den einflussreichsten und kundigsten europäischen Notenbankpräsidenten der letzten Jahrzehnte. Sein Wort hat bis heute auf der ganzen Welt Gewicht. In seiner langen Amtszeit als Präsident der Deutschen Bundesbank (1980 bis 1991) ist Karl Otto Pöhl an Entscheidungen zum Europäischen Währungssystem maßgeblich beteiligt gewesen und hat die Etablierung einer unabhängigen europäischen Notenbank mit vorbereitet.

Eine produktive Synthese

Karl Otto Pöhl vereinigt in sich die besten Traditionen einer auf Stabilität ausgerichteten deutschen Geldpolitik und einer auf Integration angelegten deutschen Europapolitik. Beide Traditionen gehören zur politischen Räson der deutschen Nachkriegspolitik. Es gehört zu den bleibenden Verdiensten von Karl Otto Pöhl, dass er sich mit Nachdruck und sehr erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass in dem Vertragswerk zur Einführung des Euro beide Traditionsstränge eine produktive Synthese eingehen konnten.

Karl Otto Pöhl war sich bewusst, dass eine weitergehende europäische Integration einer Weiterentwicklung des Europäischen Währungssystems bedurfte. So wies Karl Otto Pöhl 1985 unmissverständlich darauf hin, "... dass Konsolidierung und Fortentwicklung des Europäischen Währungssystems einen wichtigen Beitrag zur politischen und wirtschaftlichen Integration Europas leisten können." Zugleich konnte Pöhl stets das Gewicht der Bundesbank einbringen, um darauf hinzuwirken, dass das Projekt einer gemeinsamen Währung nur dann ernsthaft angegangen werden sollte, wenn es auf klaren Prinzipien und institutionell soliden Absicherungen aufbaut.

In der für Pöhl typischen Klarheit warnte er etwa 1990: "Die zukünftige europäische Geldordnung ist zu wichtig, als dass sie Gegenstand von Kompromissen - vielleicht noch faulen - sein sollte." Aber zu faulen Kompromissen ist es nicht gekommen. So folgt das Vertragswerk von Maastricht bezüglich des Statuts der EZB weitgehend dem Vorschlag des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten, der unter dem Vorsitz von Pöhl ausgearbeitet worden war.

Meinungsaustausch am Tegernsee

Ich werde niemals den Meinungsaustausch vergessen, den ich nur wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer während eines, vom damaligen Finanzminister Theo Waigel organisierten, entscheidenden Treffens zwischen den deutschen und französischen Delegationen am Ufer des Tegernsees hatte. Theo Waigel bestätigte, dass die deutsche Delegation aktiv zu der Gründung der europäischen Einheitswährung beitragen würde, sofern die französische Delegation die Unabhängigkeit der zukünftigen Europäischen Zentralbank akzeptierte. Karl Otto Pöhl, als Präsident der Bundesbank, stimmte Theo Waigel zu. Diese volle Unabhängigkeit wurde von der französischen Delegation, und insbesondere von Pierre Bérégovoy, Jacques de Larosière und mir selbst, akzeptiert.

Ende August 1989 standen wir also mit Karl Otto Pöhl am Tegernsee, kurz bevor der Eiserne Vorhang endgültig fiel. Die kommunistischen Regimes waren kurz vor dem Zusammenbruch, und die Sowjetunion stand vor der kompletten Auflösung, als die Europäische Union bereit war, einen nächsten großen Schritt nach vorne zu wagen: die Verhandlungen eines neuen Vertrags um die neue europäische Einheitswährung. Nach diesem Treffen machten wir eine Pause. Ich erinnere mich an jedes Wort von Karl Otto Pöhl in seiner Analyse des Massenphänomens der Auswanderung von Ostdeutschen über die Grenzen Ungarns und der Tschechoslowakei nach Westen. Aktiver Zeuge dieser historischen Veränderung gewesen zu sein, ist mir unvergesslich.

Was hat Karl Otto Pöhl in diesen Jahren angetrieben? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund oft kontroverser Realignments im EWS hat Karl Otto Pöhl konsequent die Vision einer stabilen europäischen Währung verfolgt. Auf dem Weg dorthin war es für ihn unerlässlich, die stabilsten Einzelwährungen zum Maßstab des Konvergenzprozesses zu machen, um dann anschließend, nach Erreichen des gemeinsamen Ziels, diese Stabilität durch einen hohen Grad geldpolitischer Unabhängigkeit abgesichert zu wissen.

Erfolge seit Einführung des Euro

Mehr als zehn Jahre nach der Einführung des Euro ist die ursprüngliche Vision einer stabilen europäischen Gemeinschaftswährung zu einer weltweit anerkannten Realität geworden. Der Erfolg des Euro ist ein zentrales Element des europäischen Einigungsprozesses. Und die integrierende Funktion des Euro ist durch die gegenwärtige Finanzkrise - die in ihrem globalen Ausmaß vielfach mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verglichen wird weiter gestärkt worden. Im Rückblick kann man die Einführung des Euro vor knapp elf Jahren als eine weise und vorausschauende Antwort Europas auf die Herausforderungen von heute sehen.

Der Euro ist die gemeinsame Währung von 330 Millionen Menschen in 16 Ländern Europas. Damit ist der Euro zu einer Währung für ein Wirtschaftsgebiet aufgestiegen, dessen Bevölkerungsgröße in etwa derjenigen der USA entspricht. Das Stabilitätsversprechen, das die Einführung der Gemeinschaftswährung begleitet hat und das gerade in Deutschland oft auf den einprägsamen Satz verkürzt worden ist, dass der Euro "stabil wie die Mark" zu sein habe, ist eindeutig eingehalten worden. Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache: die durchschnittliche jährliche Inflationsrate des Euroraums für die ersten elf Jahre, gemessen am harmonisierten Verbraucherpreisindex, wird bei 2,0 Prozent liegen.

Dies wurde erreicht trotz der erheblichen Herausforderungen, die es in dem Zeitraum - vor allem durch ungünstige Entwicklungen bei Öl- und Rohstoffpreisen - zu meistern galt. Diese Durchschnittszahl für die Inflation kann sich im historischen Vergleich sehr gut sehen lassen. Insbesondere liegt sie niedriger als die durchschnittlichen Inflationsraten in Deutschland in den siebziger (4,9 Prozent), achtziger (2,9 Prozent), und neunziger Jahren vor Einführung des Euro (2,2 Prozent). Und es sei hinzugefügt, dass die klare Stabilitätsorientierung der Geldpolitik der EZB der Beschäftigungsentwicklung im Euroraum keineswegs geschadet hat. Im Gegenteil: im Zeitraum 1999 bis 2008 ist die Zahl der Beschäftigten im Euroraum um etwa 16 Millionen gestiegen.

Wie ist das bislang Erreichte zu bewerten? Im Sinne der von Karl Otto Pöhl konsequent vertretenen Stabilitätsorientierung ist der Euro ein Erfolg, weil es gelungen ist, die Stabilitätskultur seiner besten Vorläuferwährungen zur europäischen Norm zu machen. Dies konnte nicht zuletzt deswegen gelingen, weil die Väter der europäischen Währungsordnung zu Recht darauf bestanden haben, der EZB und dem Eurosystem insgesamt ein sehr hohes Maß an institutioneller Unabhängigkeit zuzuweisen.

Die quasi-konstitutionelle Unabhängigkeit der EZB wird durch Artikel 108 des EG-Vertrags sichergestellt. Gemäß diesem Artikel darf bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten "weder die EZB noch eine nationale Zentralbank des Eurosystems noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen". Umgekehrt sind auch die Organe der Gemeinschaft und die Regierungen der Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, diesen Grundsatz zu beachten. Diese institutionelle Unabhängigkeit der EZB wird durch vertragliche Regelungen zur Sicherstellung der personellen, finanziellen und funktionalen Unabhängigkeit der EZB untermauert. Insgesamt gilt, dass die Stabilitätsorientierung der Geldpolitik der EZB durch das europäische Vertragswerk vorbildlich abgesichert ist.

Darüber hinaus legt das europäische Vertragswerk fest, dass es das vorrangige Ziel des Eurosystems ist, Preisstabilität im gemeinsamen Währungsgebiet zu gewährleisten. Die EZB definiert Preisstabilität als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex für den Euroraum von unter, aber nahe zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr und betont, dass Preisstabilität mittelfristig gewährleistet werden muss. Diese Festlegung auf eine quantitativ bestimmte Zielgröße, die es bei der Gewährleistung von Preisstabilität mittelfristig anzustreben gilt, ist ein wesentlicher Bestandteil der von der EZB verfolgten Strategie.

Die EZB selbst hat in den letzten Jahren keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie von der ihr gewährten Unabhängigkeit Gebrauch macht, wann auch immer dies für die mittelfristige Gewährleistung von Preisstabilität erforderlich ist. So hat der EZB-Rat im Zeitraum 2003 bis 2004 nicht dem öffentlich geäußerten Druck von den Regierungen dreier großer Länder des Euroraums nachgegeben, den Leitzins zu senken. Ebenso wenig hat sich der EZB-Rat im Dezember 2005 darin beirren lassen den Zins zu erhöhen, obwohl sich zehn von damals zwölf Regierungen des Euroraums dagegen aussprachen. Diese geldpolitischen Entscheidungen waren angemessen und sie stehen beispielhaft dafür, wie sich die Unabhängigkeit der Geldpolitik des Eurosystems in der Praxis erfolgreich bewährt hat.

Außergewöhnliche geldpolitische Maßnahmen zurückführen

Welches sind die anstehenden Herausforderungen, die in der näheren und etwas ferneren Zukunft auf das Eurosystem zukommen? Ich sehe hier vor allem zweierlei Herausforderungen und für den erfolgreichen Umgang mit beiden wird es von zentraler Bedeutung sein, dass das Eurosystem auf eine unabhängige Geldpolitik zurückgreifen kann.

Die erste Herausforderung bezieht sich darauf, die außergewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen, die das Eurosystem als Reaktion auf die globale Finanzkrise ergriffen hat, in der angemessenen zeitlichen Abfolge zurückzuführen. Sollten diese Maßnahmen (die in Ergänzung des normalen Zinskanals insbesondere auf eine Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Kreditvergabemöglichkeiten zielen) mit Risiken für die mittelfristige Gewährleistung stabiler Preise verbunden sein, würden sie unmittelbar rückgängig gemacht. Eine solche Reaktion wäre nicht zuletzt deswegen geboten, um die stabile Verankerung der Inflationserwartungen im Euroraum nicht zu gefährden. Diese Verankerung der Inflationserwartungen gehört zu den wichtigsten Erfolgen unserer Geldpolitik, die gerade auch in der gegenwärtigen Krise stabilisierend gewirkt hat und die es zu bewahren gilt.

Trotz zuletzt deutlicher Zeichen der Besserung ist es zu früh, die Krise für beendet zu erklären. Insofern ist es auch noch nicht möglich, im Detail darauf einzugehen, in welcher Abfolge die einzelnen Maßnahmen zurückzuführen sind. In jedem Fall jedoch gilt, dass der EZB-Rat - aufgrund der starken Unabhängigkeit des Eurosystems keinerlei Beschränkungen unterworfen sein wird, diejenigen geldpolitischen Maßnahmen zu ergreifen, die zu jedem Zeitpunkt am besten geeignet sind, die mittelfristige Gewährleistung stabiler Preise zu ermöglichen.

Die zweite Herausforderung bezieht sich auf zukünftige Erweiterungen des Euroraums durch die mögliche Einführung der gemeinsamen Währung in weiteren Mitgliedsländern der EU. Die Tatsache, dass die geldpolitische Integration Europas mittlerweile weit über den Kreis der ersten Mitgliedsländer des EWS vor über 30 Jahren hinausgreift, belegt eindrucksvoll die historischen Veränderungen, die der Prozess der europäischen Einigung durch den Fall des eisernen Vorhangs erfahren hat. Wer hätte damals, als die ersten Weichenstellungen für die gemeinsame Währung getroffen wurden, darauf hoffen können, dass sich dieser Prozess eines Tages auf ein ungeteiltes Europa erstrecken würde?

Geldpolitische Integration Europas

Um den Erweiterungsprozess auch in der Zukunft aus geldpolitischer Sicht erfolgreich gestalten zu können, wird es entscheidend sein, die soliden institutionellen Grundlagen der Geldpolitik zu bewahren. Schon heute bietet die zugleich einheitliche und strikt unabhängige Geldpolitik eine wichtige Verankerung für weniger stark integrierte Bereiche der Wirtschaftspolitik. Dieser indirekte Integrationsbeitrag einer strikt unabhängigen Geldpolitik wird in einem größer werdenden Währungsraum zunehmen.

Die Unabhängigkeit der Geldpolitik war und ist von zentraler Bedeutung für die bisherige Erfolgsgeschichte des Euro. Es ist dem Engagement und der Weitsicht von Europäern wie Karl Otto Pöhl zu danken, dass diese Unabhängigkeit heute ein integraler Bestandteil der Architektur des Euroraums ist. In einem größer werdenden Währungsraum werden die Erfolge der letzten Jahre nur dann bewahrt werden können, wenn diese Unabhängigkeit nicht angetastet wird. Hierfür gilt uneingeschränkt in Anlehnung an das Zitat von Karl Otto Pöhl, welches ich eingangs erwähnte: Die Unabhängigkeit der Geldpolitik - erst recht in einem größer werdenden europäischen Wahrungsraum "ist zu wichtig, als dass sie Gegenstand von Kompromissen - vielleicht noch faulen sein sollte."

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