Aufsätze

Versicherungsaufsicht unter Solvency II - zwei Phasen, drei Säulen und zwei Stufen

Derzeit wird im Versicherungssektor intensiv über eine fundamentale
Reform der Versicherungsaufsicht diskutiert. Ausgangspunkt ist die
Kritik an den aktuellen EU-Solvabilitätsvorschriften, die nur sehr
eingeschränkt auf ökonomischen Überlegungen fußen. Vielmehr sind diese
vor allem anhand des politisch motivierten, europaweiten
Einigungsprozesses im Rahmen der Verabschiedung der
Solvabilitätsregeln im Jahr 1973 (für
Nichtlebensversicherungsunternehmen) und 1979 (für
Lebensversicherungsunternehmen) zu erklären.1)
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Solvency I
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In einem ersten Schritt haben der Rat und das Parlament der EU zu
Beginn des Jahres 2002 einige unter dem Titel Solvency I erarbeitete
Vorschläge zur Aktualisierung der bestehenden
Solvabilitätsvorschriften angenommen. Solvency I enthält allerdings
nur kleinere Veränderungen gegenüber den bis dato gültigen
Solvabilitätsregelungen; zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor
allem die Erweiterung der Aufsichtsbefugnis um das Mittel des
frühzeitigen Eingriffs gegen einen Versicherer, die Anpassung des
Mindesteigenkapitals an die Geldentwertung und die zu jedem Zeitpunkt
(anstatt nur zum Jahresende) zu gewährleistende Einhaltung der
Solvabilitätsvorschriften.
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Das grundlegende Problem der bestehenden Solvabilitätsregeln, nämlich
eine unzureichende Orientierung der Mindesteigenkapitalausstattung an
den tatsächlichen Risiken des Versicherers, bleibt jedoch bestehen.
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Die Solvabilitätsvorschriften sollen nun durch das Solvency II-Projekt
neu geordnet werden. Zur Planung und Umsetzung von Solvency II hat die
Europäische Kommission im Versicherungsausschuss einen Unterausschuss
Solvabilität gebildet. Zudem ist die EU-Aufsichtsbehördenkonferenz
Committee of European Insurance and Occupational Pensions Supervisors
(CEIOPS) über verschiedene Arbeitsgruppen maßgeblich am Solvency
II-Projekt beteiligt.
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Ziel des Projekts ist die Entwicklung konsistenter
Solvabilitätsstandards, die in allen EU-Rechtsräumen einheitlich
anwendbar sind. Diese Solvabilitätsstandards sollen ein weitgehend
wettbewerbsneutrales System darstellen, welches die Risikolage des
Versicherers möglichst exakt abbildet. Des Weiteren sollen Anreize zur
Entwicklung interner Risikosteuerungsmodelle geschaffen werden.
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Organisation von Solvency II in zwei Phasen
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Das Solvency II-Projekt ist in zwei Phasen eingeteilt. In der ersten
Phase wurde von Mai 2001 bis zum April 2003 die grundlegende
Ausgestaltungsform festgelegt, ein genereller Rahmen definiert und
verschiedene Studien von der Europäischen Kommission in Auftrag
gegeben. In der zweiten Phase werden seit Dezember 2003 die
skizzierten Rahmenbedingungen konkretisiert und Richtlinien des
zukünftigen Solvabilitätssystems erstellt.
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Die erste Phase des Solvency II-Projekts umfasste zunächst Analysen
zur bestehenden Situation, Diskussionen über mögliche Grundlagen,
Prinzipien und Konzepte des zukünftigen Aufsichtssystems sowie die
Festlegung der Grundzüge des zukünftigen Systems. Von zentraler
Bedeutung sind dabei die Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
KPMG und der so genannte Sharma-Report. In der Studie von KPMG wird
ein "Drei Säulen Konzept" (three pillar structure) für die
Solvenzaufsicht von Versicherungsunternehmen vorgeschlagen. Dieses
Drei Säulen Konzept wird im folgenden Abschnitt vorgestellt.
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Als Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die aus Vertretern der europäischer
Versicherungsaufsichtsbehörden bestand und vom Vorsitzenden der
britischen Finanzmarktaufsicht Paul Sharma geleitet wurde, konnte der
Shar-ma-Report über aufsichtsrechtliche Problembereiche erarbeitet
werden. Dazu wurden zunächst 21 Fallstudien von in Schwierigkeiten
geratenen Versicherungsunternehmen analysiert, um darauf aufbauend die
Interventionsmöglichkeiten des aufsichtsrechtlichen Instrumentariums
abzuleiten.
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Nachdem die erste Phase des Solvency II-Projekts abgeschlossen ist,
werden in der zweiten Phase detaillierte Vorschriften erarbeitet. Die
neuen Regeln sollen nach umfassenden Konsultationen aller
Marktteilnehmer erlassen werden. Im ersten Schritt führen daher die
CEIOPS Arbeitsgruppen Befragungen und Beratungen durch, in denen
Vorschläge zur Ausgestaltung des künftigen Solvabilitätssystems
gesammelt und diskutiert werden. Diese Vorschläge werden dann vom
Unterausschuss Solvabilität in einer Rahmenrichtlinie für Solvency II
gebündelt und dem EU Parlament im Juli 2007 zum Beschluss vorgelegt.
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Im zweiten Schritt werden die CEIOPS Arbeitsgruppen ab 2007 mit der
konkreten Umsetzung von Solvency II betraut. Die zweite Phase endet
mit der Ausarbeitung der Durchführungsverordnung, die anschließend in
nationales Recht umgesetzt werden muss. Nach derzeitigem Stand wird
die zweite Phase jedoch nicht vor dem Jahr 2008 beendet.
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Drei Säulen der Versicherungsaufsicht
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Zur Solvabilitätssteuerung wurde von KPMG ein Drei Säulen Konzept
vorgeschlagen, dass sich an der "Neuen Basler
Eigenkapitalvereinbarung" für den Bankensektor orientiert, dabei aber
an die Besonderheiten der Versicherungswirtschaft angepasst wurde. Der
Unterausschuss Solvabilität folgt in seinen Vorschlägen der von KPMG
empfohlenen Konzeption. Insofern wird das aufsichtsrechtliche
Überprüfungsverfahren in der Versicherungswirtschaft dem
Überprüfungsverfahren im Bankenbereich angenähert. Im Gegensatz zum
Bankensektor stehen jedoch im Versicherungssektor weniger
Einzelrisiken als vielmehr eine ganzheitliche Risikobetrachtung im
Rahmen eines Solvabilitätssystem im Mittelpunkt.
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Die erste Säule des Drei Säulen Modells enthält vor allem quantitative
Regelungen für die Finanzausstattung von Versicherungsunternehmen mit
Solvabilitätskapital. Neben Vorschriften zur Bemessung von
versicherungstechnischen Rückstellungen sind insbesondere Regelungen
zur Berechnung des Mindesteigenkapitals und des (höheren) Zielkapitals
geplant. In diesem Rahmen sollen auch die Anforderungen an
unternehmensindividuelle interne Solvabilitätsmodelle und an
standardisierte Modellansätze definiert werden. Darüber hinaus werden
die zu verwendenden Risikomaße sowie die Vorschriften für
Kapitalanlagen betrachtet.2) Im Solvabilitätskapital sollen dabei vier
steuerungs- und überwachungsrelevante Risikokategorien berücksichtigt
werden:3)
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Qualitative Elemente der Aufsicht
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Versicherungstechnische Risiken entstehen aufgrund der stochastischen
Natur der Schäden, also einer Abweichung der tatsächlich realisierten
von den erwarteten Schäden. Kreditrisiken beschreiben die Gefahr der
Nichterfüllung von Zahlungsansprüchen aufgrund einer Insolvenz von
Schuldnern, insbesondere in der Vermögensanlage und in der
Rückversicherung. Marktpreisrisiken ergeben sich aus Schwankungen
aller relevanten Marktpreise, wie zum Beispiel Aktien-, Anleihen- und
Wechselkurse. Operationelle Risiken treten infolge einer
Unzulänglichkeit oder des Versagens von internen Verfahren, Menschen
und Systemen oder infolge externer Ereignisse ein.
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Die zweite Säule baut auf dem Sharma-Report auf und beinhaltet die
qualitativen Elemente der Aufsicht. Die durch quantitative Modelle in
der ersten Säule erhobenen Risiken müssen durch entsprechende Prozesse
und Entscheidungen im Rahmen eines Risikomanagementsystems gesteuert
werden. Dementsprechend gehören in die zweite Säule insbesondere
Grundsätze für das interne Risikomanagement, die interne
Risikokontrolle und zugehörige Eingriffs- und Kontrollbefugnisse der
Aufsicht.
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Die Güte des internen Risikomanagementsystems soll künftig verstärkt
durch die Aufsicht überwacht werden, so dass die Bedeutung
qualitativer Faktoren wie Prozessabläufe, Kontrollen und Berichtswesen
zunehmen wird. Mit der Säule II sind daher detaillierte Regelungen
über die Verankerung der Risikomanagementprozesse im
Versicherungsunternehmen zu implementieren.4)
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In der dritten Säule werden Überlegungen zur Markttransparenz und zur
Förderung der Marktdisziplin durch erweiterte
Offenlegungsanforderungen angestellt.5) Durch die zu kodifizierenden
Offenlegungspflichten soll eine höhere Transparenz und eine wirksame
Marktdisziplin erreicht werden. Ziel ist es, den Marktteilnehmern
einen Einblick in die Solvenzlage des Unternehmens zu ermöglichen,
damit eine risikobewusste Unternehmensführung und ein wirksames
Risikomanagement durch den Markt honoriert und ein risikoreiches
Verhalten sanktioniert werden kann.
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Bei der Umsetzung dieser Regeln sind jedoch einige Restriktionen zu
beachten: Beispielsweise sollten keine wettbewerbsverzerrenden
Informationen veröffentlicht werden, es sollte eine Abstimmung mit den
in den internationalen Rechnungslegungsstandards (IAS/IFRS)
geforderten Informationen stattfinden, und die zusätzliche Publizität
soll zu angemessenen Kosten erzielt werden können.6)
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Zwei Stufen der Solvabilitätsaufsicht
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Nach heutigem Erkenntnisstand kann davon ausgegangen werden, dass es
bei der Ableitung der Eigenkapitalausstattung zu einem zweistufigen
Konzept, dem so genannten "two level approach", kommen wird.7) Neben
der Definition eines Mindesteigenkapitals soll auch ein höheres,
ökonomisches Zielkapital für Versicherungsunternehmen definiert und
von der Aufsicht beobachtet werden.
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Das Mindesteigenkapital ergibt sich aus den im Zuge von Solvency I
aktualisierten Vorschriften für die Berechnung der Soll-Solvabilität.
Die Soll-Solvabilität wird in der Schadenversicherung in Abhängigkeit
des Prämienertrags oder des Schadenaufwands berechnet. In der
Lebensversicherung ergibt sich die Soll-Solvabilität aus dem
Kapitalanlagerisiko und dem versicherungstechnischen Risiko.8)
Unabhängig von diesen Regeln muss in beiden Versicherungszweigen
mindestens ein absoluter Fixbetrag, der so genannte
Mindestgarantiefonds, vorgehalten werden. Eine Unterschreitung der
Mindesteigenkapitalhöhe führt dabei unmittelbar zu
aufsichtsrechtlichen Sanktionen.
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Das Zielkapital soll dem Risikokapital entsprechen, welches ein
Unternehmen zur Ausübung seiner Tätigkeit bei einer bestimmten
Insolvenzwahrscheinlichkeit benötigt. Während die Unterschreitung der
Mindesteigenkapitalhöhe unmittelbare Sanktionen zur Folge hat, soll
die Verletzung des Zielkapitals lediglich Gespräche zwischen der
Versicherungsaufsicht und dem Versicherer auslösen.9)
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Interne Risikosteuerungsmodelle
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Eine der wichtigsten Neuerungen des Solvency II-Projekts besteht in
der Möglichkeit der Verwendung interner Risikosteuerungsmodelle zur
Ermittlung des Zielkapitals. Interne Modelle sollen eine möglichst
exakte Analyse, Steuerung und Kontrolle der individuellen
Risikosituation des Unternehmens ermöglichen. Voraussetzung für den
Einsatz eines internen Modells ist die Zertifizierung durch die
Versicherungsaufsicht, wozu es beispielsweise einer detaillierten
Dokumentation bedarf.
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Daneben ist eine periodische Überprüfung des gewählten Modells
notwendig, um Anpassungen an Umweltveränderungen vornehmen zu können.
Von daher sind verbindliche Standards für den Aufbau interner Modelle
und ihrer Validierung erforderlich. Eine mögliche Variante für ein
solches internes Risikosteuerungsmodell könnte dabei zum Beispiel ein
Simulationsmodell auf Grundlage der so genannten dynamischen
Finanzanalyse sein.
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Baut der Versicherer kein adäquates internes Risikosteuerungsmodell
auf, soll für die Berechnung des Zielkapitals ein noch zu
definierendes Standard-Risikomodell zum Einsatz kommen. Die
Aufsichtsbehörden können jedoch auf die Verwendung eines internen
Modells bestehen, wenn das Standardmodell die spezifische
Risikosituation des Versicherers nicht korrekt abbildet. Die aktuellen
Überlegungen zum Standardansatz gehen von einem ganzheitlichen, aber
leicht anzuwendenden Modell aus, das alle steuerungs- und
überwachungsrelevanten Risikokategorien umfassen soll. Als ein
Vorschlag steht derzeit das vom Gesamtverband der deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV) zusammen mit der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) entwickelte Standardmodell zur
Diskussion.10)
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Dabei handelt es sich um ein marktwertorientiertes Faktormodell,
welches für einen einjährigen Zeithorizont zunächst auf Basis
unternehmensindividueller Risikofaktoren den Kapitalbedarf zur
Bedeckung verschiedener Risikokategorien errechnet. Diese werden
anschließend zu einem Gesamtkapitalbedarf zusammengeführt, wobei
Risikoausgleichprozesse im Unternehmen über eine Kovarianzformel
berücksichtigt werden. Als Risikomaß wird der Value at Risk gewählt.
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Viel politischer Einigungsbedarf
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Mit dem Solvency II-Projekt wird die Aufsicht über die europäische
Versicherungswirtschaft grundlegend neu geordnet und zu einer
unmittelbaren Orientierung am Risiko des Versicherers fortentwickelt.
Nach derzeitigem Stand soll jedoch die zweite Phase des Solvency
II-Projekts erst im Jahr 2008 abgeschlossen werden, sodass mit der
Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen in nationales Recht erst
am Ende dieses Jahrzehnts zu rechnen ist.
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Zurzeit sind noch viele wichtige Fragen ungeklärt, die im politischen
Einigungsprozess der kommenden Jahre beantwortet werden müssen. Dazu
gehört insbesondere die konkrete Ausgestaltung der Standardformel in
Säule I, nach der Versicherer, denen kein akkreditiertes internes
Modell zur Verfügung steht, ihr Zielkapital ableiten werden. Auch die
Anforderungen an interne Risikosteuerungsmodelle in Säule I, der
aufsichtsrechtliche Überprüfungsprozess in Säule II und die
Offenlegungsvorschriften in Säule III sind derzeit noch weitgehend
offen. Die Neustrukturierung der gesetzlich geforderten
Mindesteigenkapitalvorschriften stellt demnach ein Thema dar, welches
die Versicherungswirtschaft noch das gesamte Jahrzehnt hindurch
begleiten wird.

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