Leitartikel

Unter dem Diktat der Politik

In der Not rücken die Menschen zusammen. Das gilt einerseits für schicksalhafte Extremsituationen wie dem schweren Erdbeben in Japan im Frühjahr. Es lässt sich andererseits bei krisenhaften Zuspitzungen im Wirtschaftsleben registrieren, die nicht als höhere Fügung eingestuft werden können, sondern letztlich aus Verhaltensweisen und Regeln resultieren, die Menschen sich selbst gegeben haben. Die Grenzen zwischen diesen Ausprägungen von Krisensituationen mögen fließend sein, aber beide Spielarten erhöhen nachweislich die Bereitschaft der Betroffenen zu gravierenden Veränderungen. Sprichwörtlich werden unkonventionelle Lösungen nicht selten "aus der Not geboren". Und oft schlägt in Krisenzeiten die Stunde der Politik und anderer Institutionen. Sie haben dann ein günstiges Zeitfenster für gesetzliche Veränderungen und regulatorische Vorgaben aller Art, die sich in normalen Zeiten so schnell und umfassend nicht umsetzen lassen.

Im Zuge der vor fast vier Jahren ausgebrochenen Finanz- und Wirtschaftskrise und deren anhaltenden Folgen zeigt dieses Verhaltensmuster in mehreren Stufen und auf verschiedenen Ebenen ein Gemisch von krisenhafter Zuspitzung und hektischen Regulierungsanstrengungen. Im Sommer 2007 und erst recht nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ein gutes Jahr später wurden der Vertrauensverlust in die Kreditwirtschaft und die Liquiditätsschwierigkeiten vieler Institute als extreme Alarmsituation registriert und haben weltweit zu einem spürbaren Zusammenrücken zwischen den Regierungen, Wirtschaft und Bevölkerung geführt. Auch wenn die Sofortmaßnahmen allesamt auf nationaler Ebene vollzogen wurden, um schneller reagieren und den besonderen nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen zu können, hielt sich der Dissens in Grenzen. Zwar zogen die Rettungsmaßnahmen in einigen Ländern gigantisch hohe Stützungsgelder aus der Staatskasse nach sich und liefen für viele Bürger auf einer ziemlich abstrakten Ebene ab, doch war zunächst weltweit eine erstaunliche Geschlossenheit im Kampf gegen die Krise zu registrieren.

Auch wenn nach außen hin noch ein gewisses Maß an politischem Zusammengehörigkeitsgefühl zu spüren war, fällt der G20-Gipfel Ende September 2009 schon in die zweite Entwicklungsstufe. Immerhin reichte es in Pittsburgh seitens der Staats- und Regierungschefs noch für die vage politische Absichtserklärung, die Regularien für die Finanzmärkte so lückenlos aufeinander abzustimmen, dass künftig sinngemäß systemgefährdende Akteure an keinem Ort der Welt unbeaufsichtigt davonkommen und die Finanzstabilität gefährden können sollen.

In ihrem Denken und Handeln vertreten die großen weltwirtschaftlichen Blöcke USA, Asien und Europa und mittendrin auch die einzelnen zugehörigen Nationen aber längst wieder deutlich ihre eigenen Interessen. Gleichwohl geht von dem mehr oder weniger aus akuter Not heraus geborenen politischen Glaubensbekenntnis der G20 in Pittsburgh eine gewisse Signalwirkung aus. Denn seither stützen sich die diversen internationalen Gremien in ihrer Arbeit an der Gestaltung global abgestimmter Finanzmarktregularien auf diese Grundlage. Und im Zweifel, so ist bei den laufenden Umsetzungsarbeiten an Basel III immer wieder zu hören, wird man die Staats- und Regierungschefs an dieser Vereinbarung zu messen wissen.

Deutschland und die Euroländer schließlich bewegen sich in einer dritten Entwicklungsstufe, die aus der Finanzmarktkrise entstanden, aber auch maßgeblich der Währungsunion geschuldet ist. Seit gut einem Jahr gilt hier das aus stabilitätspolitischer Bedrängnis geborene Bekenntnis zur Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott, das in den Folgediskussionen über betroffene Peripherieländer der Eurozone zu einer impliziten politischen Garantie für den Erhalt des Euros in der bisherigen Konstellation geworden ist. Unter dem Regime der Märkte hätte man vor einem Jahr eine Umschuldung Griechenlands und/oder anderer Länder noch als ökonomisch notwendig verkaufen können, mittlerweile ist das mit der eindeutigen politischen Positionierung der Schwergewichte Merkel und Sarkozy nicht mehr möglich. Von der Bundeskanzlerin wurde die Rettungsaktion Griechenlands schon früh in die Kategorie "alternativlos" eingestuft.

Mindestens ebenso wichtig für die momentane Zustandsbeschreibung der EU im Umfeld der anstehenden Regulierungen sind die europäischen Rahmenbedingungen, also die ganz normalen Bestrebungen zur Integration der nationalen Finanzmärkte in einer Währungsgemeinschaft. Diese sind zwar politisch gewollt oder zumindest demokratisch legitimiert. Aber die Eurozone lebt weiter mit einer Währungsunion ohne entsprechende politische Union als Überbau. Dieses Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Auswirkungen einer Währungsunion und den politischen Realitäten unabhängiger Staaten überlagert in Europa zusätzlich die angemessene Reaktion auf die Bewältigung der Finanzkrise.

Auf der einen Seite gibt es die verständlichen Interessenlagen der von nationalen Stimmungen und Strömungen abhängigen Politik der Einzelstaaten. Und auf der anderen Seite sind die europäischen Institutionen ebenso nahe liegend darauf ausgerichtet, die Effizienz des gemeinsamen Währungsraums zu verbessern. Wenn man so will wird die Eurokrise bei der EU-Kommission als willkommene Notsituation empfunden, sich endlich derständigen Sonderwünsche der Einzelstaaten zu entledigen. Letztere hingegen reklamieren mehr oder weniger vehement die Einhaltung des Prinzips der Subsidiarität.

Besonders deutlich werden diese Interessenunterschiede derzeit an diversen Regulierungsfragen. Während man beispielsweise auf dem Gebiet der Einlagensicherung auf dem Wege ist, die historisch gewachsenen Systeme der einzelnen Länder möglichst zu tolerieren und dabei dennoch einen gemeinsamen Rahmen zu finden, drängt die europäische Politik bei BaselIII zu einer deutlich stärkeren Harmonisierung. Nicht durch Richtlinien soll künftig die Umsetzung erfolgen, sondern teils auf dem Wege der Verordnung. Die EU-Kommission erhofft sich dadurch zu Recht einen Effizienzgewinn durch spürbaren Bürokratieabbau auf europäischer Ebene (siehe Beitrag Spitzer in diesem Heft; Seite 554). Und mit der gleichen Berechtigung warnt die hiesige Bankenaufsicht vor einer komplizierten Gemengelage und einem enormem bürokratischen Anpassungsbedarf der relevanten KWG-Auslegung (siehe Beitrag Zeitler; Seite 541).

Wer also trägt die Kosten der Anpassung? Oft hilft an dieser Stelle Flexibilität bei der Anpassungsgeschwindigkeit, das erwünschte Level-Playing Field mit vertretbarem bürokratischen Aufwand zu erreichen. In diesem Sinne werden beide Seiten klarer herausarbeiten müssen, was es kostet an nationalen Eigenheiten festzuhalten, um so den gangbaren Weg einer wirklich effizienzsteigernden Vereinheitlichung der Regularien zu finden. In die richtigen Bahnen lenken muss diese weit über die Bankenaufsicht hinausgehende grundsätzliche Streitfrage seitens der Deutschen Bundesbank künftig Sabine Lauten-schläger-Peiter, die dieses Vorstandsressort seit Anfang Juni von ihrem Vorgänger Franz-Christoph Zeitler übernommen hat (siehe Titelfoto).

Dieses aktuelle Beispiel der Bankenaufsicht zeigt einmal mehr, dass es der deutschen (nationalen) Politik wie auch der (Kredit-)Wirtschaft in Zukunft in Europa immer schwerer fallen dürfte, nationale Interessen umzusetzen, auch wenn die Anpassungsphase zwangsläufig Gewinner und Verlierer hervorbringt. Mit Sonderanliegen wird man viel spärlicher umgehen müssen als bisher. Die Übungen an einem vernünftigen europäischen Ordnungsrahmen bleiben dennoch zäh und kompliziert. Hoffentlich kommen sie ohne größere Krisen voran.

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