Kreditwesen aktuell

Frage an Rüdiger von Rosen - Warum sollten sich Emittenten für die Börsenstrukturen interessieren?

Die europäische Börsenlandschaft verändert sich atemberaubend schnell.
Grundlegende Strukturentscheidungen oder Fusionsabsichten überraschen
immer häufiger die Marktteilnehmer. Die Prognose, wohin genau in der
Zukunft die europäischen Börsen steuern werden, erfordert dabei fast
hellseherische Fähigkeiten. Ob innereuropäische Fusion oder
transatlantischer Zusammenschluss, fest steht: Die Zahl der
eigenständigen Börsen wird künftig aller Wahrscheinlichkeit nach
sinken. Zugleich legen Märkte wie auch ihre Betreiber auf der Jagd
nach Wettbewerbsvorsprüngen und Effizienzgewinnen an Größe zu.
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Was aber bedeutet eine mögliche Verringerung der Zahl der Börsen und
damit der Wahlmöglichkeiten für die Nutzer einer Börse, das heißt die
Emittenten und Anleger? Sollten sich insbesondere die notierten
Aktiengesellschaften für die Größe einer Börse interessieren? Um es
vorwegzunehmen: Sie müssen es - schon allein, um frühzeitig die mit
den Veränderungen einhergehenden Herausforderungen zu erkennen.
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Grundsätzlich berührt der rasche Strukturwandel drei zentrale
Dimensionen der Ordnung der Börsenmärkte: die Markteffizienz, den
Wettbewerb der Plattformen und das regulatorische Umfeld.
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Hinsichtlich der Markteffizienz gilt hier grundsätzlich: je größer,
desto effizienter. Der Grund hierfür sind verbreitete Skalen- und
Netzwerkeffekte im Börsengeschäft. Die Bündelung von Liquidität senkt
die Transaktionskosten im Handel. Bezogen auf einzelne Wertpapiere
ändert ein Börsenzusammenschluss dabei freilich wenig, denn bereits
heute ist die Liquidität in einzelnen Wertpapieren weitgehend auf
einzelne Plattformen konzentriert. Langjährige Statistiken belegen vor
allem eine anhaltende Bindung zur Heimatbörse. Nur bei einem einzigen
Dax-Unternehmen mit Auslandsnotierung machen die außerhalb
Deutschlands erzielten Handelsumsätze über zehn Prozent des
Gesamthandelsvolumens aus. Und auch im Inland sind die Umsätze im Dax
auf Xetra konzentriert, wo zuletzt über 98 Prozent der innerdeutschen
Umsätze in diesen Werten stattgefunden haben.
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Allerdings wird der Markt mit der Größe auch interessanter für die
Investoren und damit aufnahmefähiger für neue Wertpapiere. Zudem
lassen sich die Handels- und Abwicklungssysteme effektiver nutzen und
kostengünstiger fortentwickeln, je mehr Transaktionen hierüber
abgewickelt werden. Synergien und Fixkostendegressionen bei der
Marktinfrastruktur dürften deshalb auch die Hauptmotive hinter den
derzeitigen Fusionsbestrebungen sein.
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Nutzen für alle
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Die Senkung von Transaktionskosten und die Vereinheitlichung von
Plattformen nutzt letztlich allen. Würde in der EU ein ähnlicher
Integrationsgrad der Finanzmärkte wie in den USA erreicht, so könnte
das Bruttoinlandsprodukt der EU um 1,1 Prozent, die Investitionen um 6
Prozent und die Beschäftigung um 0,5 Prozent gehoben werden.1) Diese
Berechnung aus dem Jahr 2002 wartet allerdings noch auf ihre
Realisierung, wenn sie überhaupt jemals realistisch war.
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Emittenten profitieren konkret von einer indirekten Senkung der
Kapitalkosten, die sich über eine höhere Liquidität der Primär- und
Sekundärmärkte und verlässliche und kostengünstige
Post-Trade-Strukturen ergibt. Allerdings profitieren nicht alle in
gleichem Umfang. Die Zusammenlegung von Märkten allein ändert zum
Beispiel nichts daran, dass insbesondere kleinere und mittlere
Unternehmen eher auf eine lokale Investorenbasis zurückgreifen. Diese
Unternehmen werden daher auch nur sehr bedingt die Vorteile nutzen
können, die eine "Superbörse" bieten kann. Unter Umständen droht ihnen
sogar, weniger von den Investoren wahrgenommen zu werden als es bei
national verankerten Märkten der Fall war und ist. Selbst nationale
Schwergewichte können auf einer internationalen Plattform mit einem
Wahrnehmungsverlust konfrontiert sein.
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Drohende Kräfteverschiebung
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Mit der durch die Konsolidierung sinkende Zahl der Börsen könnte sich
zudem das Kräfteverhältnis zwischen Börsen und Emittenten verschieben,
zumal das ökonomische Gewicht der Emittenten im Vergleich zu anderen
Anspruchsgruppen in den vergangenen Jahren gemessen an der jeweiligen
Bedeutung der Einkommensquellen der Börsen gefallen ist. So jedenfalls
lauten die Befürchtungen.
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Auf den ersten Blick scheint dieser Einwand einige Berechtigung zu
haben. Trotzdem besteht jedoch kein Anlass zur übertriebenen Sorge,
denn zum einen stehen die Emittenten heute bereits Börsen gegenüber,
die wegen der beschriebenen Besonderheiten des Börsengeschäfts und der
Kosten eines Plattformwechsels über einen monopolistischen
Verhaltensspielraum verfügen. Dennoch gibt es ein präferenzengerechtes
Angebot an Börsendienstleistungen - etwa durch die bewusste
Segmentierung des Handels oder durch Indexbildung. Auch beweist die
Euronext, dass transnationale Strukturen keineswegs zum Verlust
lokaler Bezüge führen müssen. Zudem herrscht auch bei einer
Verringerung der Wahlmöglichkeiten weiter Wettbewerb zwischen den
Marktplätzen. Einige große Börsen können sogar für ein Mehr an
Wettbewerb stehen als viele kleine, weil nur ökonomische
Schwergewichte die Ressourcen für einen Wettbewerb um die Märkte
aufbringen können. Darüber hinaus wird mit der Implementierung der
Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) die
außerbörsliche Konkurrenz in Europa einen neuen Schub erhalten, was
ebenfalls disziplinierende Kräfte freisetzt.
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Während also die Perspektiven für Markteffizienz und Wettbewerb
relativ leicht umrissen werden können, fällt dies bei den
regulatorischen Rahmenbedingungen deutlich schwerer. Bisherige
Diskussionen konzentrieren sich unabhängig von der Frage der Größe
einer Börse vor allem darauf, inwieweit die modernen
gewinnorientierten Börsen ihre traditionellen Aufgaben bei der
Selbstregulierung an öffentliche Stellen abgeben sollten. Die
Befürchtung, der Wettbewerb der Börsen könne in eine generelle
Unterregulierung führen, hat sich dabei bisher nicht bestätigt - zu
wertvoll ist die Reputation einer hohen Marktqualität. Diese
Erkenntnis ist inzwischen fest verankert.
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Viel wichtiger als die Beschäftigung mit der Rolle der Börsen als
Träger der Selbstregulierung ist deshalb eine Auseinandersetzung mit
den staatlich gesetzten Rahmenbedingungen für transnational tätige
Börsen und ihre Nutzer. Auch aus Sicht der in der International
Organisation of Securities Commissions (IOSCO) zusammengeschlossenen
Aufsichtsbehörden sind die komplexen Zuständigkeits- und
Abstimmungsfragen weitgehend ungelöst, die sich bei
grenzüberschreitend organisierten Börsen zwangsläufig stellen.2)
Einigkeit besteht nur, dass auch für eine transnationale Börse
effektive und lückenlose Aufsichtsstrukturen existieren müssen. Im
konkreten Einzelfall beschränkt sich die Kooperation bisher auf
Arbeitsvereinbarungen zwischen den betroffenen Aufsichtsbehörden und
andere informelle Koordinationsmuster. Diese waren aber noch nicht
einem echten Härtetest ausgesetzt.
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Import von Rechtsvorschriften
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Solange hier Rechtsunsicherheit herrscht, fürchten Emittenten nicht
ohne Grund, dass es über den Zusammenschluss von vormals national
eigenständigen Börsenbetreibern zu einem Import von Rechtsregeln aus
einen anderen Staat kommen könnte oder dass bewährte nationale Regeln
und Verfahrensweisen vorschnell neuen Einheitslösungen geopfert
werden. Besonders virulent ist diese Befürchtung seit Einführung des
Sarbanes-Oxley Act von 2002 natürlich im transatlantischen Verhältnis.
In Europa besteht mit dem Committee of European Securities Regulators
(CESR) dagegen ein vergleichsweise fest institutionalisiertes
Koordinationsgremium der Aufsichtsbehörden. Auch sorgt der
mittlerweile weitgehend vereinheitlichte Rechtsrahmen für deutlich
mehr Sicherheit in dieser Hinsicht. Allerdings geschieht dies um den
Preis einer angestrebten Rechtsangleichung, die erforderliche
Freiräume für Rechts- und Steuerwettbewerb wie auch
Regulierungsarbitrage einengt.
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Interessen offensiv vertreten
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Insgesamt müssen die börsennotierten Unternehmen den aktuellen
Entwicklungen große Aufmerksamkeit widmen und dürfen sich angesichts
vielleicht entstehender Superbörsen nicht bequem zurücklehnen. Sie
sollten darauf achten, dass die hohe Dienstleistungsqualität im
vertrauten Rechts- und Sprachumfeld bewahrt wird, die regionale
Verankerung der Heimatbörse bestehen bleibt und etwaige Synergien auch
an die Emittenten weitergegeben werden. Prinzipiell sollten die
Marktkräfte aber hierfür sorgen, denn ohne Emittenten gibt es auch
keine Handelsumsätze.
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Wo das wirtschaftliche Eigeninteresse der Börsen - etwa nach
umsatzträchtigen Notierungen - für ein adäquates
Dienstleistungsangebot nicht genügt, müssen die Emittenten ihre
Interessen offensiv vertreten. Bei privaten Börsen gibt es hierfür
einen Ansatzpunkt, auf den der Autor bereits im Sommer 2000 nach dem
ersten Versuch der Deutsche Börse AG, die Londoner Börse zu übernehmen
- und vor deren Börsengang - hingewiesen hat: Auch Emittenten können
Aktionäre einer Börse werden und hierüber eine zeitgemäße und
marktkonforme Form der Einflussnahme verankern. Für etwaiges Ungemach,
das von staatlichen Handlungsträgern ausgehen könnte, hilft dagegen
nur nachhaltige und eigenständige Interessenvertretung.

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