Leitartikel

Marktwert? Ja, aber ...

Das hessische Kultusministerium hält an der verkürzten Gymnasialzeit von acht Jahren (G8) als Regelfall fest, aber kooperativen Gesamtschulen bleibt es künftig in eigener Entscheidung überlassen, G8 beizubehalten oder wieder zum traditionellen G9-Turnus bis zum Abitur zurückzukehren. Die Verbriefung gehört auch in Zeiten der Finanzkrise zu den unverzichtbaren Instrumenten einer kapitalmarktorientierten Unternehmensfinanzierung, aber für die Anbieter gilt es künftig, die Transparenz zu erhöhen und die Produktqualität zu steigern, um das Vertrauen wieder herzustellen. Michael Ballack bleibt nach der Aussprache mit Joachim Löw Kapitän der Deutschen Fußballnationalmannschaft. Aber er muss sich den Regeln des Bundestrainers unterwerfen. Man kennt solche Ja-Aber-Bekenntnisse aus der Politik, der Wirtschaft und dem Sport. Oft sind sie der geordnete Rückzug zur Korrektur von erkannten Fehlentwicklungen.

Auch die Positionierung von Praktikern und Wissenschaftlern der Rechnungslegungszunft zum Fair Value passt derzeit voll in das Ja-Aber-Raster. Zwar hält der bei Weitem überwiegende Teil der hiesigen Bilanzierungsgemeinde die Grundidee der Bewertungsmethode eindeutig für richtig und will sie nicht abschaffen, schon gar nicht in der Krise. Aber auch von den Autoren dieses Heftes wird ausdrücklich die Notwendigkeit einer Anpassung der derzeit gültigen Bewertungsregeln gesehen - und zwar "inhaltlich, nicht situativ", wie Wolfgang Sprißler im Redaktionsgespräch betont (Seite 1146). Dass die geänderten Vorschriften dann natürlich im Krisenfall ebenso wie in Boomzeiten Anwendung finden müssen, stößt gleichfalls auf uneingeschränkte Zustimmung. Schließlich handelt es sich um allgemein anerkannte Konventionen zur möglichst objektiven Abbildung der Unternehmenslage mit Anspruch auf langfristige Gültigkeit über Marktzyklen hinweg. Das alles sind freilich Bekenntnisse auf sehr abstraktem Niveau. Gelöst sind die praktischen Bewertungsfragen damit noch nicht. Wie behandelt man beispielsweise mögliche Übertreibungen von Marktpreisen im Boom?

Das grundsätzliche Votum für das Festhalten an Zeitwerten bei gleichzeitiger Offenheit für sinnvolle Anpassung wurde in der ZfgK schon Anfang Mai und Mitte Juli dieses Jahres vermittelt (Kreditwesen 9-2008 und 14-2008), und es hat auch in den Beiträgen dieses Heftes Bestand. Gefährdet ist es freilich durch eine von der Kreditwirtschaft selbst hochgradig mitverschuldete Entwicklung. Im Gefolge der erneuten Zuspitzung der Finanzkrise seit September dieses Jahres fühlt sich in aller Welt die Politik berufen, sich vehement in hochkomplexe Wirtschaftsregularien einzumischen - wenn es sein muss eben auch in die Fair-Value-Bewertung. In der Tat stellt sich die Frage, wieso die Unzulänglichkeiten dieses Bewertungsansatzes erst jetzt wirksam behoben werden sollen. Schließlich wurden die möglichen Nachteile des Fair Value Accounting schon in der Einführungsphase lebhaft diskutiert. Nur zur Erinnerung: "Transparenz wichtiger als Ergebnisglättung" wurde Anfang 1998 in der ZfgK als Quintessenz einer Reihe von Beiträgen zum Thema "HGB versus IAS" getitelt. Schon damals wurde dezidiert auf mögliche Nachteile der internationalen Rechnungslegung verwiesen. Es war dabei übrigens der auch im laufenden Heft (siehe Seite 1188) vertretene Hans Wagener, der unter den seinerzeit noch normaleren Bedingungen auf Gefahren durch fehlende Marktpreise in illiquiden Märkten und auf die Schwierigkeiten der Preisermittlung für bestimmte (OTC-) Produkte aufmerksam gemacht hat (Kreditwesen 4-1998). Was heute die Dinge von der damals noch mehr oder weniger theoretischen Lagebeurteilung unterscheidet, sind die konkreten, sprich schmerzhaften Erfahrungen an den Märkten. Seit der Anwendung der IAS/IFRS-Bilanzierung in der deutschen Kreditwirtschaft ist bekanntlich nicht nur die Internet-Blase geplatzt - eine Entwicklung, die offensichtlich die Versicherer stärker von Investitionen in strukturierte Produkte abgehalten hat als die Bankenbranche. Sondern die gültigen Bilanzierungskonventionen haben auch die noch andauernde und viel härtere Bewährungsprobe der derzeitigen Finanzkrise eindeutig nicht bestanden.

Wenn die Autoren dieses Heftes dennoch zu der abschließenden Einschätzung gelangen, dass es im Zweifel sinnvoller ist, die Aktionäre möglichst genau über die tatsächliche Vermögens- und Ertragslage des Unternehmens zu informieren als dem glättenden Anschaffungsprinzip des HGB nachzutrauern, dann hat dieses Grundbekenntnis zum Fair Value in den hiesigen Fachkreisen sicherlich eine andere, weil praxiserprobte Qualität. Solange die Bilanzberichterstattung von Finanzdienstleistern wie sonstigen Unternehmen aber selbst gegenüber einigermaßen kundigen Analysten und Journalisten als eine Art Wettbewerbsinstrument genutzt und die Vergleichbarkeit der ohnehin komplexen Materie allein durch eine bewusst unterschiedliche Art der Aufbereitung und Darstellung relevanter Ergebnisse und Kennzahlen unnötig erschwert wird, darf man nicht erwarten, die interessierte Öffentlichkeit zu erreichen oder gar deren Vertrauen zu gewinnen (siehe Beitrag Belwe, Seite 1151). Das gilt gleichermaßen für die Hektik, mit der zuletzt die Regelungen zur Umwidmung von Bestandsbewertungen noch zum dritten Quartal dieses Jahres durchgezogen wurden (siehe Beitrag Heß, Seite 1144). Das zeigt sich gerade beim Neunmonatsabschluss der Allianz. Wenn man "mitten im Spiel die Spielregeln ändert" (Zitat Sprißler) sorgen die daraus möglicherweise resultierenden Bewertungsdifferenzen bei den Beobachtern auch dann für Verwirrung, wenn die Verfahrensänderung noch so begründet sein mag. Dafür sind die Facetten der Fair-Value-Bewertung einfach zu breit und die Auswirkungen zu komplex geworden.

In ihrer anspruchsvollen Variante - wie sie etwa das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee für Fachkreise zur Diskussion gestellt hat - erschließen sich die Inhalte dieses Begriffs aus den Vorgaben und der fachgerechten Auslegung der einschlägigen Standards des amerikanischen US-GAAP und der europäisch geprägten IFRS. Eine gängige Interpretation für ein breiteres Publikum bezeichnet Fair Value als beizulegenden Zeitwert, "fairen Wert" oder auch als Marktpreis und versteht darunter denjenigen Wertansatz, zu dem sachverständige und vertragswillige Parteien unter Marktbedingungen bereit wären, einen Vermögenswert zu tauschen oder eine Verbindlichkeit zu begleichen. Egal auf welcher dieser Ebenen man sich diesem Ansatz zuwendet, er käme unter normalen Umständen in der öffentlichen Wahrnehmung gewiss nicht über eine klägliche Nebenrolle hinaus. Doch im Zuge der Finanzmarktkrise dient dieser Begriff aus der gemeinhin als spröde empfundenen Rechnungslegung immer wieder als lohnender Ansatzpunkt für hitzige Diskussionen. Denn die geltenden Regelungen stehen unter dem Verdacht, die Lage an den Märkten prozyklisch noch zu verschärfen. Seit Beginn der Finanzmarktkrise, so räumen auch die Autoren dieses Heftes ein, mangelt es schlicht an fundamentalen Voraussetzungen zur Anwendung der Fair-Value-Bewertung. Es gibt illiquide Märkte, ganze Segmente sind zusammengebrochen, und auch das Ausweichen auf zulässige Hilfsmethoden führt zum Teil nur begrenzt weiter oder gar in die Irre.

Unter diesen Vorzeichen muss jede Weiterentwicklung der Bilanzierungsregeln mit Bedacht vorbereitet und den Adressaten vermittelt werden. Wenn eine Bank im Rahmen ihrer Geschäftspolitik festlegt, illiquid gewordene Finanzinstrumente entgegen ihrer bisherigen Absicht nun langfristig zu halten, so ist das klar und eindeutig eine Managemententscheidung von Banken, so Eric Strutz und Jörg Schieber (Seite 1184). Es ist deshalb kein Grund zu erkennen, weshalb sie weiter als Handelsbestand gehalten werden sollen. Die notwendige Transparenz beziehungsweise eine Verhinderung von Willkür wollen sie dabei über eine ausführliche Erläuterung solcher Umwidmungen im Anhang sichergestellt wissen. Fernziel solcher Überlegungen ist der auch von den Standardsettern ins Spiel gebrachte Anspruch, die interne risikobasierte Steuerung mit der externen Rechnungslegung in Einklang bringen zu wollen. In diese Richtung zielen letztlich auch Adolf G. Coenenberg und Christian Fink (Seite 1154) mit ihrer Betrachtung der Rolle der Segmentberichterstattung als Grundlage der strategischen Jahresabschlussanalyse. Hans-Jürgen Niehaus (Seite 1170) klingt an dieser Stelle viel bescheidener. Er wirft zum konkreten Anspruchsniveau möglicher Änderungen die Frage der Machbarkeit auf, ob es also beispielsweise nicht schon eine zu ambitionierte Zielsetzung der Standardsetter ist, alle Aktiva und Passiva zum Fair Value bewerten zu wollen.

Berechtigte Interessen dieser Art gibt es in einer vielschichtigen Wirtschaft zuhauf. Jörg Schneider und Iris Röthemeyer (Seite 1179) sowie Helmut Perlet (Seite 1175) wollen die besonderen Bedingungen der Versicherungswirtschaft bei der Bewertung von Versicherungsverträgen berücksichtigt wissen, Rolf Friedhofen (Seite 1159) stellt Überlegungen zu einem praktikablen Hedge Accounting für Kreditrisiken an, Karl Hopfner (Seite 1167) weist auf die ganz spezielle Bewertungsproblematik eines Fussballvereins rund um Transferentschädigungen und Wertansätze für Stadien hin. Und Klaus Feinen ereifert sich über das Unverständnis der Standardsetter für die Belange der weltweiten Leasingbranche (siehe Gespräch des Tages). Wohin eine Fallbetrachtung führt, wie sie der internationalen Rechnungslegung immanent ist, zeigt schon diese kleine Zufallsauswahl aus diesem Heft. Sie verdeutlicht exemplarisch die Gefahr, immer mehr zu einem Sammelsurium von Einzelvorschriften zu verkommen, die sich mit dem Turmbau zu Babel vergleichen lässt (siehe Kreditwesen 11-2003).

Ohnehin ist derzeit schwer kalkulierbar, welches Gewicht solche Anregungen aus den Fachzirkeln haben. Denn es ist die Zeit der Politiker. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der in den USA die Regelungen zur Umwidmung der Bestandsbewertung eingeleitet wurden und der politische Druck der EU, unter dem der IASB rasch nachgezogen hat, lässt keine bedachtsame Bedarfsanalyse, sondern eher eine weitere Regelungsflut erwarten, speziell für die zukünftigen Risikoberichte der Banken. Freilich kann die Fachwelt nach wir vor dazu beitragen, dass die Entscheidungsträger aus Politik und den Fachgremien bei jedem "Ja" auch genügend Aufklärung über das "Aber" haben. Ganz hoffnungslos ist das nicht, wie die konstruktive Arbeit am Bilanzmodernisierungsgesetz (BilMoG) zeigt. Aber welchen Marktwert haben in diesen Zeiten schon Bilanzierungsgesetze? Mo.

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