Schwerpunkt Finanzstabilität

Rechtsbruch oder kreative Interpretation? - Fragen zur "Nothilfe" für strauchelnde Euro-Staaten

Das Rad von Lösungsmöglichkeiten für die aktuelle Sorge um den Staatsbankrott stolpernder oder gefallener Euro-Mitgliedsstaaten gewinnt an Schwung. Vom Ausschluss Reformunwilliger aus der Währungsunion ist die Rede - aber auch vom Gegenteil: Vom verschleierten oder verschämt eingestandenen Rechtsbruch bestehender Verbotsklauseln des Primärrechts oder auch von dessen als selbstverständlich ausgegebener Interpretation zugunsten der Hilfe bedürftiger Adressaten. Ausschluss oder Hilfe? Beide Pole liegen im Spannungsfeld politischer Gestaltungswege - und Begehrlichkeiten. Aufspüren konnte man sie bereits vor mehr als einem Jahrzehnt. Einen Pol lokalisierte vor Jahren der Kassandra-Blick auf den Fortbestand der künftigen Währungsunion. Die Buchwährung Euro war nicht einmal eingeführt, da kursierten in London (gerade dort aus nahe liegenden Gründen - wie übrigens auch jetzt) Szenarien von der "übernächsten Währung" auf dem Kontinent. Was würde wo nach dem Euro kommen? Die Frage selbst schon problematisierte den allgemeinen Fortbestand der künftigen Einheitswährung - oder des Festhaltens mancher Teilnehmerstaaten daran.

Überforderungs- und Frustrationsszenario

Wenig später diskutierte man die denkbaren Auslöser hierfür: Das Überforderungsszenario und das Frustrationsszenario.1) Das Überforderungsszenario erfasst den Tatbestand zunehmender Unfähigkeit (oder Unwilligkeit) einzelner Mitgliedsstaaten, die Stabilitätsvorgaben des Euro-Währungspaktes einzuhalten. Weil das zuvor lange gehandhabte Mittel einer Abwertung der nationalen Währungen den Schwachwährungsländern nicht mehr zur Verfügung stehen würde, würden diese gegebenenfalls das Euro-Währungssystem verlassen wollen und für eine eigene, weiche Landeswährung optieren. Letzte würde dann das Ventil für Wechselkursanpassungen bieten. Das geschehe freilich unter hohen Risiken: angefangen von der fraglichen Anerkennung des neuen nationalen Währungsregimes durch die übrigen Mitgliedsstaaten bis hin zu hohen gesamtwirtschaftlichen Kostenrisiken.

Im Frustrationsszenario quittiert ein Mitgliedsstaat die mangelnde Bereitschaft anderer, positiv zur Entwicklung als Stabilitätsgemeinschaft beizutragen, mit einem Austritt aus der Währungsunion. Einige Jahre lastete auf Deutschland der Verdacht, sich diese Tür offenhalten zu wollen - vor allem nach dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zum Vertrag von Maastricht.2) Mit der Entscheidung der Verfassungshüter von 1998 über die Einführung des Euro3) über die sogenannte "Professorenklage"4) und der Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten zum Stabilitäts- und Wachstumspakt sind solche jenseits der Grenzen entstandene Bedenken verschwunden.

Der zweite Pol trägt die Bezeichnung "No-bail-out". Nie und nimmer dürfe es darum gehen, die Union oder deren Euro-Mitgliedsstaaten für die Verbindlichkeiten eines zahlungsunfähigen Mitgliedsstaates eintreten lassen zu müssen. Dadurch würde der gewünschte Automatismus der Währungsunion, nämlich Stabilitätssünder durch höhere Zinsen als Strafe der Kapitalmärkte büßen zu lassen, außer Funktion gesetzt.5)

Allerdings wetterleuchtete es bereits damals um diese angeblich felsenfeste und unverrückbare Vorgabe. Vor dem zeitgleichen Hintergrund umfangreicher Hilfen des internationalen Währungsfonds und der Staatengemeinschaft für Staaten in Südamerika und Asien, aber auch für Russland und die Türkei, sei es - so zu lesen in einem sehr kompetenten Kommentar zum EG-Vertrag - politisch kaum vorstellbar, dass die Gemeinschaft die Insolvenz eines Mitgliedsstaates und alle damit verbundenen Folgen gerade für die Währungsunion hinnehmen werde. Als Mahner - oder Wegbereiter - belegen das respektable Autoren aus Wissenschaft und Politik.6)

Handlungsfähigkeit in der Union notwendige Ermächtigung

Jetzt also: Hilfe für Griechenland und andere. Eine Lösung soll die EU-Verträge nicht verletzen. Zunächst dreht sich die Diskussion ganz unjuristisch um Hilfsbereitschaft für den Problemstaat und das Ansehen der Union. So hat sich in der aktuellen Fragestellung vor die gebotene Prüfung der Vertragsvorgaben als Grundlage jedes Handelns der Gemeinschaft eine große Welle politischer Motive gelegt: Man müsse zusammenstehen, die Währungsunion sei eine Schicksalsgemeinschaft, Loyalität und Solidarität mit den Schwachen (die diese Lage zum Teil durch das Wirken der Starken erleiden) sei gefordert. Hilfe dürfe nicht von draußen kommen, weil das die Handlungsfähigkeit der Union in Frage stellen werde oder gar Dritten Einfluss auf die Euro-Währung eröffne.

Dennoch: Bei aller wohlmeinender - oder aus eigener Interessenlage bestimmter - Hilfsbereitschaft bedarf es zur Umsetzung einer Rechtsgrundlage. Das ergibt sich bereits aus dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung, mit der die Organe der EU ausgestattet sind. Rechte können sie nur insoweit ausüben, als ihnen diese durch Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten übertragen worden sind. Erst recht gilt dies, wenn eine Finanzhilfe gegen bestehende Rechtsgrundlagen gewährt würde. In beiden Fällen hätte die Kommission als Hüterin der Verträge gegen solche Maßnahmen einzuschreiten und gegebenenfalls ein allfälliges Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.7)

Als Maßnahme käme ein finanzieller Beistand der Gemeinschaft in Betracht.8) Weiterhin hatte der EU-Kommissionspräsident bilaterale Kreditverträge der Mitgliedsstaaten mit Griechenland ins Gespräch gebracht.9) Weniger in das öffentliche Bewusstsein rückten die Instrumente, die die Notenbankverfassung der Europäischen Union bereithalten könnte.10)

Juristisch zweifelhaftes Territorium

Alle drei Wege verlaufen über ungesichertes, juristisch zweifelhaftes Territorium. Hinsichtlich der Aktivitäten der Union kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, einem Mitgliedsstaat einen finanziellen Beistand der Gemeinschaft zu gewähren. Gewährt werden kann dieser Beistand nur unter besonderen Voraussetzungen. Diese liegen unter anderem dann vor, wenn der Mitgliedsstaat "von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht" ist. Das Recht schließt nicht aus, dass es sich um eine selbstverursachte Schuldenkrise handelt. Schulden und Verschuldung der öffentlichen Hand kennt der Vertrag zwar - nicht aber die Schuld der Verantwortlichen11), den Staatshaushalt "gegen die Wand gefahren" zu haben. Allenfalls mag sich dieses in den Auflagen und Bedingungen widerspiegeln, mit denen der finanzielle Beistand gewährt wird.12)

Einer solchen Anwendung des Vertrages könnte allerdings eine grundsätzliche gültige Auslegungsregel entgegenstehen: Die spezielle Norm geht einer allgemeinen vor. Konkret heißt das: Die spezielle "No-bail-out"-Klausel ist eigens für die Währungsunion konzipiert. Sie schließt jegliche Anwendung der dem Ziel der Währungsunion entgegenstehenden Beistandsnormen in anderen Zusammenhängen aus. Denn "die Union haftet nicht für Verbindlichkeiten der Zentralregierungen ... von Mitgliedsstaaten" und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.

"No-bail-out"-Klausel als Glaubwürdigkeitstest

Gleiches gilt für die Mitgliedsstaaten.13) Damit tritt auch rechtlich das Spannungsverhältnis zwischen dem "Geist der Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten"14) und dem Haftungsausschluss15) zutage. Bei dieser Konstellation kann auch keine Berufung auf eine etwaige Generalermächtigung für die Union erfolgen.16) Ein finanzieller Beistand außerhalb des Rahmens wäre als Vertragsverletzung anzusehen beziehungsweise würde eine Vertragsänderung erfordern.17)

Bereits frühzeitig sah man daher die Gefahr einer indirekten Finanzierung von Staatshaushalten der Mitgliedsstaaten. Kapitalmärkte und deren Zinsen spiegeln nämlich Länderrisiken nicht in jedem Fall adäquat wider. Ein indirekter "Bail-out" eröffnet eine weit größere Gefahrenquelle, sodass die Kreditgeber statt des einzelnen Länderrisikos eher auf die Kreditwürdigkeit der gesamten Gemeinschaft abstellen würden. Mit deren weiterem Ausbau könne die faktische Schuldenübernahme durch Dritte kaum noch ausgeschlossen werden. Denn: "Zahlungseinstellungen eines Mitgliedsstaates führen (dann) in zunehmendem Maße zu Vermögensverlusten bei Wirtschaftssubjekten in anderen Staaten. Ferner könnten wegen der engen Verbindungen der Banken Kettenreaktionen ausgelöst werden. Angesichts solcher Kosten kann ein hochverschuldetes Land geneigt sein, die Androhung seiner Zahlungsunfähigkeit als Instrument einzusetzen, um eine monetäre Finanzierung seiner Schulden oder Transferzahlungen zu erzwingen."18) Die juristische Entscheidung, ob sich eine Finanzierung als zulässige solidarische Hilfe oder verbotene faktische Übernahme von Verbindlichkeiten eines Mitgliedsstaates handelt, entscheidet zugleich über die Glaubwürdigkeit des Einsatzes der Vertragsinstrumente. Da das "No-bail-out" Haushaltssünder im Vorfeld des Kollapses disziplinieren, die Mitgliedsstaaten als Stabilitätsgemeinschaft weiterentwickeln und den Wert der Gemeinschaftswährung wahren soll, würde eine exzessive Interpretation der Ermächtigung für einen finanziellen Beistand - oder eine restriktive Interpretation der Verbotsnorm - diesen Zielen schaden.19) Richtig ist daher keine kreative extensive Handhabung, sondern eine enge Auslegung, die sich auch am Gesamtkonzept der Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungspolitik des Vertrages orientiert. Daher ermächtigt die Vorschrift nicht zu Maßnahmen, die einer Haftung für Mitgliedsstaaten gleichkäme.20)

Es ist daher verständlich, dass man versucht, vom Wortlaut der "No-bail-out"-Klausel abzugehen. Hierzu wurde die These aufgestellt, ein Kredit sei kein "Bail-out". Die Begründung lautet: Werde ein Kredit mit normalen Zinsen gewährt, dann handele es sich nicht um eine verpönte Subvention. Kredit bleibe Kredit - und werde, so muss man wohl schließen, vom Verbotstatbestand gar nicht erfasst. Diese Auffassung findet zum Teil in der juristischen Literatur Anklang. Das Verbot stelle lediglich auf "Haftungsübernahme" beziehungsweise auf das "Eintreten in ein Schuldverhältnis" ab.21) Finanzhilfen, die als Kredit gegeben würden, seien weder Eintritt in bestehende Schuldverhältnisse noch - dies wird nicht ausdrücklich so bezeichnet wohl auch nicht die Haftung für noch zu begründende Verbindlichkeiten. Dem Wortlaut könnte diese Auslegung untergeschoben werden. Denn der Kredit würde in den Haushalt des schwächelnden Mitgliedsstaates eingestellt. Dieser Mitgliedsstaat selbst entscheidet dann formal eigenständig - freilich nach Vorgabe der Kreditgeber welche Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung konkret getroffen werden sollen. Und: Der Kredit ist nach rechtlichen Gesichtspunkten zurückzuzahlen.

Erhebliche rechtliche Bedenken

Diese ebenso schlichte wie überraschende Argumentation weist einige Fragezeichen auf. Warum hat - wenn dies gewollt war - das System von Maastricht derlei nicht vorgesehen? Aus wessen Sicht ist eigentlich ein Kredit ein Kredit? Für Letzteres winkt die öffentliche gemachte Antwort: wenn "normale Zinsen" hierfür gezahlt würden. Aber am Casus Griechenland ist nichts normal. Vielmehr werden sich die am Kapitalmarkt für Griechenland verlangten Zinsen dann "normalisieren", wenn die Mitgliedsstaaten ihre notwendige Erklärung abgegeben und notfalls auch Geld haben fließen lassen. Und schließlich: Was ist mit diesem Kredit - wenn er, wie manche Volkswirte meinen, im Hinblick auf Altersstruktur der Einwohner des Empfängerlandes und seine absehbar über lange Zeit hinweg schwache Wirtschaftsleistung wohl kaum getilgt werden wird? Eine demgegenüber problemlose Sicht der Finanzhilfe spiegelt eher das offenbar gesteigerte Harmonieverlangen und Hilfsbedürfnis der Mitgliedsstaaten wider.

Offenmarktpolitik der EZB mit "Lex Athen"?

Aus den erheblichen Zweifeln hilft auch nicht der Umkehrschluss aus dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung an die Union. Wenn als Ergebnis des Verbots die Gemeinschaft zum finanziellen Beistand für einen Mitgliedsstaat nicht ermächtigt ist, müssten die anderen Mitgliedsstaaten tätig werden dürfen. Denn sie haben insoweit keine Souveränitätsrechte übertragen und die Entscheidungs- und die Handlungsmacht für die Vergabe bilateraler Kredite von Staat zu Staat behalten. Allerdings haben sich die Mitgliedsstaaten ja gerade durch den AEU-Vertrag wechselseitig verpflichtet, bestimmte Handlungen nicht vorzunehmen. Aus dieser Verpflichtung können sie sich nicht ohne Weiteres, selbst bei Zustimmung durch den Rat, die Kommission oder das EU-Parlament ohne Änderungen der Vertragsgrundlagen lösen.21a)

Alles in allem: Jeder finanzielle Beistand zur Behebung einer schweren Haushaltskrise eines Mitgliedsstaates durch die Union beziehungsweise deren Mitgliedsstaaten begegnet erheblichen rechtlichen Bedenken.

Der Krisensituation um Griechenland hat nun auch die Europäische Zentralbank Rechnung getragen. Dies erfolgte durch Lockerung der Geschäftspolitik. Sicherheiten mit einem verminderten Rating wird sie auch künftig über die Auswirkungen der Lehman-Krise hinweg akzeptieren auch bei der Hereinnahme von Staatspapieren durch Geschäftsbanken zum Zwecke der Refinanzierung.22) Damit bliebe sie freilich im Zuge einer Verschärfung der Krise um notleidende Staaten "auf den Sicherheiten sitzen, und das Zentralbankgeld ist unwiderruflich aus der Tube".23)

Eine Hamlet-Frage

Zwar ist die EZB - gerade in ihrer Geschäftspolitik - unabhängig. Weisungen aus der Politik dürfen nicht erteilt, solche seitens der EZB nicht befolgt werden. Das Notenbankgeschäft beruht indes auf einem gesetzlichen Rahmen. Zu ihm gehört unter anderem das Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln der Mitgliedsstaaten.24) Hinter diesem Verbot steht der Gedanke, dass das System der Euro-Währungsbanken die öffentlichen Haushalte nicht zulasten der Währungsstabilität finanzieren soll. Dagegen bleibt der Sekundärerwerb von Schuldtiteln staatlicher Stellen auf den Kapitalmärkten zulässig. Diese klare Ausnahme soll ihrem Sinn und Zweck nach das Betreiben einer Offenmarktpolitik ohne Begrenzung ermöglichen.25)

Um diesen letztgenannten Fall geht es aber wohl nicht. Denn vor dem Hintergrund vormaliger entgegenstehender Stellungnahmen aus dem Hause der EZB hatte die Änderung ihrer Risikopolitik ein "Geschmäckle". Von einer "Lex Griechenland" spricht der Markt. Ob der entsprechende Beschluss der EZB vertragskonform ist, entzieht sich jeder Prüfung. Denn jedenfalls hat sich die EZB mit einer eleganten generellen Öffnung samt Begründung unter Einbeziehung des speziellen Grie-chenland-Problems einer brisanten Entscheidung entledigt. Griechenlandpapiere: notenbankfähig oder nicht notenbankfähig? Diese Hamlet-Frage des Geschäftsbankers in Beziehung auf deren Verwendungsfähigkeit im Refinanzierungsrahmen mit den Zentralbanken des Euro-Systems ist zur Zufriedenheit der Märkte beantwortet.

Bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit hinsichtlich der direkten Finanzhilfe durch Mitgliedsstaaten an einen Mitgliedsstaat mittels bilateraler Kredite, so droht hierzulande eine Dramatisierung des ohnehin nicht spannungsfreien Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union. Wer entscheidet worüber?

Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter der deutschen Verfassung. Insofern haben die Richter in Karlsruhe sich stets vorbehalten, Eingriffe des EU-Rechts in die nationale Verfassungsstruktur auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls abzuwehren. So hat das Gericht im Maastricht-Urteil von 1993 zwar anerkannt, seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht werde in Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum Gerichtshof der Europäischen Union ausgeübt.26) Solche Arten von "Kooperationsverhältnissen" können aber - wie die Prozessrechtsgeschichte zeigt27) - dann heikel werden, wenn ein Gericht, ein Verfahren zuständigkeitshalber nicht an ein anderes verweisen will, sondern beide sich jeweils selbst zuständig für eine Entscheidung in der Sache erklären.

Auslegung ja - faktische Vertragserweiterung nein

Auf Deutschland anwendbares Gemeinschaftsrecht wäre die (behauptete) Pflicht oder das (behauptete) Recht hinsichtlich einer Kreditgewährung an einen Mitgliedsstaat innerhalb der Euro-Zone aufgrund Unionsrecht. In einer solchen Konstellation wäre zu beachten, dass der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union zwischen geschriebener Pflicht und einer Vertragsänderung unterscheidet.28) Seine Auslegung darf daher im Ergebnis nicht zu einer Vertragserweiterung und damit Vertragsänderung führen. "Eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten". Dies gilt zwar nach dem Maastricht-Urteil von 1993 "nur" für Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften. Zum Beispiel würde damit die "Umlage" eines denkbaren Hilfsvolumens der EU zugunsten notleidender Euro-Teilnehmer auf andere Mitgliedsstaaten verwehrt. Vieles spricht jedoch dafür, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Vorbehalt auch auf einen entsprechenden bilateralen Beistandskredit der Bundesregierung anwenden könnte.

Das Urteil aus dem Jahre 1993 aus Karlsruhe sagt noch mehr. Zur Stabilitätsgemeinschaft gehöre, dass die Übernahme von und der Eintritt für Verbindlichkeiten öffentlicher Stellen eines Mitgliedsstaates durch die Gemeinschaft oder einen anderen Mitgliedsstaat ausgeschlossen werden. Ein Mitgliedsstaat könne mithin die Folgen unseriöser Finanzpolitik nicht einfach abwälzen. Und: "Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes." Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrages fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen.

Diese klaren Sätze hat das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung - über die sogenannte Professorenklage - im Jahre 1998 erheblich abgeschwächt. Am nachhaltigsten bleibt in Erinnerung, dass die im Rahmen der Währungsunion zu treffenden Entscheidungen "nicht nach dem individualisierenden Maßstab eines Grundrechts beurteilt werden. Sie sind von den politischen Organen zu verantworten, die für eine Gesamtbeurteilung allgemeiner Entwicklungen zuständig sind und ihre Entscheidung entwicklungsbegleitend überprüfen und korrigieren können.29) Im Ergebnis sei eine Kontrolle dessen nicht Sache der Rechtsprechung, sondern der Regierung und des Parlaments.

Auf der Beobachtungsliste

Inzwischen sind mehr als zehn Jahre verstrichen. Eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Währungsunion würde nunmehr an der Frage eines Rechts oder einer Pflicht der Bundesrepublik zur Hilfe gegenüber Griechenland kaum vorbeikommen. Ungenutzt musste jüngst eine Möglichkeit hierzu verstreichen: die Entscheidung aus Karlsruhe zum Lissabon-Vertrag vom Sommer 2009.30) Einer der Beschwerdeführer hatte nämlich unter anderem vorgetragen, "der Stabilitätspakt werde durch die in der Vergangenheit gewährten Ausnahmeregelungen seiner Substanz beraubt. Es sei daher unmöglich, noch länger von einer Zustimmung Deutschlands zur Europäischen Währungsunion zu sprechen". Dieses Argument fand immerhin Eingang in den Tatbestand.31)

Zu einer Kommentierung oder konkreten Auseinandersetzung kam es in den Urteilsgründen jedoch nicht. Vor dem Hintergrund ganz anderer Bedrohungen aus der Finanzwelt lagen bei der Fassung des Urteils Schwächen des Rechtsrahmens für den Euro, wenn überhaupt (noch) wahrgenommen, an ferner Peripherie. Ganz im Gegenteil: Eher galt es im Jahre 2009, den übermäßigen Höhenflug des Euro insbesondere im Wechselkursverhältnis zum US-Dollar zu bremsen.

Keine Verfassungsbeschwerde wegen Geldwertverschlechterung

Ein gutes halbes Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag hätten aus gegebenem Anlass die Verfassungshüter erwägen können, die Argumentation der Beschwerdeführer aufzugreifen, denn diese hatten ja nicht einen Geldwertverlust beklagt, sondern den Verlust ihrer Mitwirkungsrechte als Wähler und Bürger bei der Übertragung von Hoheitsrechten und die Etablierung eines "Regimes der Selbstermächtigung" durch die Entscheidungspraxis der Kommission. Der Euro-Rechtsrahmen bleibt also auf der Beobachtungsliste von Karlsruhe.

In seiner Währungs-Rechtsprechung über die Rechte des Individuums an stabilem Geldwert verfolgt das Bundesverfassungsgericht allerdings stetige Grundsätze. Sie könnten auch in eine "Causa Griechen-land"-Hilfe, wie sie auch immer gestaltet werden mag, einfließen. Was das Recht des Individuums anbetrifft, so weiß man seit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur deutschen Währungsreform 1948, dass dem Gesetzgeber zur Neuordnung des zerrütteten Geldwesens ein sehr weiter Handlungsspielraum zugebilligt wird. Grob gesagt: Er darf pauschalieren bis hin zur gefühlten Ungerechtigkeit. Er darf Sachverhalte, die unterschiedlich sind, gleichbehandeln und - in gewissem Rahmen fast gleiche Sachverhalte wesentlich ungleicher behandeln. Man möge die einschlägigen Urteile prüfen. Auch an entsprechende Grundzüge der Reorganisation des Eigentums nach Beitritt der DDR mag man sich erinnern. ... Hierbei ging es freilich um binnendeutsche Sachverhalte.

Die Einführung des Euro erweiterte das Feld: Aufgrund des Europäischen Regelwerks betraf die Professorenklage (auch) den "Zwangsumtausch" von D-Mark in Euro und einen möglichen Substanzverlust des Letzteren, weil das Einlösungsversprechen der Stabilität durch die Europäische Zentralbank als Emittentin nicht würde gehalten werden können. Solchen möglichen Individualansprüchen hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Einführung des Euro im Jahre 1998 den Boden entzogen. Denn dieser stetigen Rechtsprechung entspricht, dass der einzelne Bürger als Geldeigentümer nicht über das Recht verfügt, eine parlamentarisch mitzuverantwortende Entscheidung beim Eintritt in die Währungsunion durch eine Verfassungsbeschwerde inhaltlich überprüfen zu lassen. Das Grundgesetz garantiert ihm lediglich das Recht am nominalen Geld und sein Eigentumsrecht hieran, nicht jedoch dessen Wert als Substanz. Weder Sozialstaatsprinzip noch Eigentumsgarantie des Grundgesetzes geben etwas anderes her. Vielmehr bleibt die Erhaltung stabilen Geldwertes eine politische Aufgabe.

Es wird also keine Verfassungsbeschwerde Erfolg haben mit der Begründung, eine unmittelbar oder mittelbar geleistete Grie-chenland-Hilfe der Bundesrepublik mindere den Geldwert des Euro.

Rechtsschutzmöglichkeiten von deutschen Verfassungsorganen

Erhalten bleiben Rechtsschutzmöglichkeiten von deutschen Verfassungsorganen und anderen durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufgezählten Antragstellern. Würde etwa der institutionelle Eurorahmen nicht geändert, sondern erst durch strapazierende Auslegung und Umgehungskonstruktionen "passend" gemacht, könnte die Währungshilfe für Notlagen von Mitgliedsstaaten auf der Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung der EU kritisch vom Bundesverfassungsgericht durchleuchtet werden.32) Insbesondere im Hinblick auf ein Haushaltsgesetz, das die Gesetzgebungsgremien zu passieren hätte - zu schweigen von der notwendigen Unterschrift des Bundespräsidenten - würde dann eine interessante Überprüfung seiner Rechtmäßigkeit, gemessen an EU-Normen sowie an nationalem Verfassungsrecht, eröffnen.

Rechnet man hoch, dass ein Beistand für Griechenland - wie berichtet - zu 25 Prozent von der Bundesrepublik Deutschland getragen werden sollte und kalkuliert man weiteren Bedarf durch Nothilfe zugunsten anderer hilfsbedürftiger Euro-Staaten ein, so tritt ein herausragendes Kreditausfallrisiko zutage. Das würde in Folge die Frage auslösen, ob auf der Grundlage einer in das Europäische Vertragswerk einbezogenen Verfassung die Übertragungsakte von Teilsouveränität an die EU sowie die entsprechenden Kompetenznormen solche Risiken hatten miterfassen wollen.33)

... am Ende der Gordische Knoten?

Würde der vertragliche Rahmen zugunsten erweiterter Hilfe zwischen den Euro-Mitgliedsstaaten geändert, nähme ein solches Änderungsverfahren einen für eine finanzielle Nothilfe untauglich großen Zeitrahmen in Anspruch. Seit dem Fehlschlag des Nizza-Vertrages gilt: Änderungen schrecken. Zudem könnten aus der Reihe der 27 Mitgliedsstaaten mit Recht diejenigen, die nicht an der gemeinsamen Währung teilnehmen, Forderungen aufstellen - zum Beispiel nach Hilfe in ihren eigenen Währungsnöten. Deren Zustimmung wäre dann zu kompensieren. Ob eine sachlich durchaus richtige Unterscheidung verfinge, bei den Empfängern der Währungshilfe gehe es um die Rettung des Euro, bei deren anderen um eine einzelne Landeswährung und um die Wirtschaft außerhalb des Euro-Raumes, darf bezweifelt werden. Draußen vor der Euro-Tür wird man sagen, man trage mittelbar zur Stärkung der Wirtschaft und der Währung der Euro-Staaten bei.

Dies alles sind letztlich Erwägungen eines Unpolitischen. Wer politisch denken und handeln muss, kann kaum die reine Lehre vertreten. Er hat oft nur abzuwägen zwischen den Folgen zweier Übel: hier den möglichen währungspolitischen Turbulenzen für den Euro und daraus folgend auch schweren Schäden für die Bundesrepublik, sollte es zu einem ersten Staatskonkurs im Euro-Raum kommen - dort möglicherweise dem Rechtsbruch durch eine formal als Interpretation des Vertragswortlautes ausgegebene Lösung zugunsten eines finanziellen Beistandes, die aber gegen Sinn und Zweck der Prinzipien der Währungsunion liefe.

Solidarität und Hilfsbereitschaft heiligen freilich nicht alle Mittel. Nachgiebigkeit führt zur Aufweichungserscheinungen im Regelwerk der Währungsunion und schwächt diese im Ergebnis selbst. Skylla und Karyptis: Die abendländische Kulturgeschichte kennt etliche solcher klassischer Konflikte. Aber sie kennt auch den Gordischen Knoten ...

Fußnoten

1)Hierzu Herdegen, Matthias, Die Währungsunion als dauerhafte Rechtsgemeinschaft, in: EWU-Monitor (Deutsche Bank Research) Nr. 52 vom 22. Juni 1998 insbesondere Seiten 4f.

2)BVerfG WUB IL6.-1.94, 415ff. m. Anm. Hafke.

3)BVerfG WUB Il6.-3.98, 689ff. m. Anm. Hafke.

4)Hankel, Wilhelm, u.a., Die Euro-Klage, 1998

5)Für diesen gewollten Zusammenhang als Motiv der Vorschrift siehe zum Beispiel Häde in: Calliess/Ruffert, EU- und EG-Vertrag Art. 103 EGV Anm. 1; sehr ausführlich Gnan in: v. d. Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag Art. 103 Anm. 9ff.; insbesondere 22ff.

6)Häde a.a. O. (FN 5), Anm. 7.

7)Gnan, a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGV Anm. 34; vgl. Art. 258f. AEUV.

8)BZ vom 24. März 2010, Seite 7.

9)Ein Kredit sei ein Kredit: so der designierte Vizepräsident der EZB, der Portugiese Vitor Constancio, BZ vom 24. März 2010, Seite 7.

10)Hierzu Art. 123 und 124 sowie Art. 127ff. AEUV

11)Häde a.a. O. (FN 5), Art. 103 Anm. 6.

12)Hierzu Smulders in: v. d. Groeben/Schwarze (FN 5), Art. 100 EGV Anm. 26.

13)Art. 103 Abs. 1 AEUV; ob "Eintreten" nicht auch jede Form einer finanziellen Hilfe bedeuten könne, fragt zu Recht Siekmann, BZ vom 12. März 2010, Seite 8.

14)Der Beschluss der Euro-Gruppe zu dieser Form der Hilfe spricht von "koordinierten bilateralen Darlehen" vgl. BZ vom 27. März 2010, Seite 7.

15)Ausführlicher Constancio (FN 9), bereits Smeets, Vom EWS zur Währungsunion, in: Gröner/Schüller (Hrsg.), Die Europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, 1993, Seiten 97ff., sieht die Gefahr, dass der Vertrag zwar ein direktes "bail out" (ausschließt) ..., nicht jedoch indirekte Formen der Solidarhaftung etwa durch steigende Zuweisungen aus dem Struktur- oder Kohäsionsfonds (a.a. O. Seite 121). Das weitere Zusammenwachsen mit dem Ausbau der politischen Union mache eine Sanierung zulasten anderer Mitgliedsstaaten zunehmend wahrscheinlicher (Seite 119). Warnend daher gegen die Einrichtung eines EWF auch Stark, BZ vom 9. März 2010, Seite 6.

16)Art. 352 AEUV.

17)Gnan a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGV Anm. 29.

18)Smeets a.a. O. (FN 16), S. 120.

19)Vgl. Häde a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGV Anm. 6 sowie Gnan a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGB Anm. 23.

20)Insgesamt handelt es sich um das in der Literatur in den Mittelpunkt gestellte Problem der Glaubwürdigkeit, die im Vertrag vorgesehenen Prinzipien der Haushaltsdisziplin und der Eigenverantwortlichkeit für die Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten in der Praxis nicht zu umgehen. Siehe ausführlich zu der Entwicklung Gnan a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGV Anm. 5ff.

21)Gnan a.a. O. (FN 5), Art. 103 EGV Anm. 21.

21a)Im Umkehrschluss ... ergeben sich in Verbindung mit den jeweiligen Kompetenznormen der EG die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten, so Calliess in a.a. O. (FN 5), Art. 5 EGV Anm. 12.

22)Hierzu ausführlich BZ vom 26. März 2010, Seite 7 ("EZB ruft Lex Athen aus").

23)So drastisch-realistisch der Kommentar hierzu von Schaaf, BZ vom 26. März 2010, Seite 1.

24)Art. 123 Abs. 1 AEUV; vgl. zum Verbot des direkten Zentralbankkredites in dieser Form Häde a.a. O. (FN 5), Art. 101 EGV Anm. 9ff.; Schill in: Lenz (Hrsg.), EGV-Kommentar, Art. 104 Anm. 2.

25)Häde a.a. O. (FN 5), Art. 101 EGV Anm. 13; Gnan a.a. O. (FN 5), sehr ausführlich bei Art. 101 EGV Anm. 21ff.

26)Leitsatz 7 des Urteils vom 1993 (FN 2).

27)Ein klassisch-historischer Dauerkonflikt bestand über 150 Jahre hinweg zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat als den höchsten Gerichten des alten Reiches von 1648 bis 1806; siehe Hafke, Zuständigkeit und Besetzung der höchsten Reichsgerichte ..., Jur. Dis. 1973.

28)a.a. O. (FN 2), S. 418f. m. Anm. Hafke.

29)a.a. O. (FN 3).

30)BVerfG NJW 2009, 2267ff. (auszugsweise). Der dort nicht abgedruckte entsprechende Vortrag der Beschwerdeführer zu VI. hinsichtlich der Währungsunion findet sich in der offiziellen Fassung des Urteils BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009, Absatz Nr. (1-421), www.bverfg.de/entscheidungen/es200906302bve000208.html.

31)In der vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Zitierweise Abs.-Nr. 109.

32)Vgl. hierzu auch Schaaf, "Der EWF soll es richten", BZ vom 10. März 2010, Seite 1.

33)Zur schwachen Wirtschaftsleistung Griechenlands wegen einer "Rückzahlbarkeit" vgl. auch Hübner, BZ vom 25. März 2010, Seite 17.

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