Leitartikel

Die Vereinigten Staaten von Europa

"Die ganze Börse hängt nur davon ab, ob es mehr Aktien gibt als Idioten oder mehr Idioten als Aktien." Und: "In ihren Reaktionen benimmt sich die Börse oft wie ein Betrunkener; sie weint bei guten Nachrichten und lacht bei schlechten." So sehr André Kostolany, der frühere Oberbörsen-Spekulant auch polarisiert, es fällt angesichts des derzeit stattfindenden Wahnsinns an den Aktienmärkten schwer, ihm zu widersprechen. Der Monat August 2011 droht als einer der schwärzesten in die Geschichte des Deutschen Aktienindex Dax einzugehen. In der Spitze hat das Börsenbarometer gut 20 Prozent an Wert eingebüßt, Milliarden an Unternehmenswerten wurden vernichtet. Nachvollziehbar ist das selbst für die vermeintlichen Experten schon lange nicht mehr. Wie auch, da sich die Entwicklung der Kurse weitestgehend von den Fundamentaldaten abgekoppelt hat - gute Unternehmensnachrichten passen einfach nicht zu zweistelligen Kurseinbrüchen. Börse ist nicht rational und erst recht weder vorhersehbar noch steuerbar. In Zeiten der immer schnelleren Trades vielleicht weniger als je zuvor.

Genau das meinen Europas Staats- und Regierungschefs aber erreichen zu können. Die Märkte zu beruhigen. Ein Traum! Was wurde nicht schon alles versucht? Erstes Rettungspaket, zweites Rettungspaket, Kauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank. Milliardenaufwendungen, deren Wirkung einfach so verpuffte, weil die Märkte den Bekenntnissen schon lange nicht mehr glauben und das Fehlen stringenten und konsequenten Handelns Spekulationsmöglichkeiten gegen die europäische Währung offen lässt. Das liegt natürlich an den Umständen einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die zweifelsfrei äußerst kompliziert und herausfordernd sind. Aber man muss sich auch fragen, ob diese Krise für manche nicht willkommener Anlass war, notwendige und schmerzhafte Strukturveränderungen auszusetzen.

Es rührt aber auch daher, dass selbst die vermeintlichen Saubermänner wie Deutschland es mit der Einhaltung von Verträgen nicht immer so genau genommen haben. Die Bundesrepublik hat als eines der ersten Länder die Schuldengrenzen des gemeinsam festgelegten Maastricht-Vertrags gerissen. 2010 lag die Schuldenstandsquote, die den Schuldenberg in Relation zum BIP setzt, bei 83 Prozent. Erlaubt sind nach dem Vertrag von Maastricht maximal 60 Prozent. Da hilft auch die Zuversicht des Finanzministers nichts, der dieser Tage verkündete, die Quote werde 2011 etwa um drei Punkte auf 80 Prozent fallen und bis 2015 auf rund 71 Prozent zurückgehen. Das alles natürlich nur ohne weitere Rettungsmaßnahmen für die Sünderstaaten im Süden Europas. In der gesamten Eurozone stieg die Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsproduktes seit 2007 von rund 66 Prozent auf etwa 89 Prozent. Konsequenzen? Fehlanzeige. Die vertraglich vorgesehenen Strafen für Defizitsünder existieren schon lange nur noch auf dem Papier.

Was aber am meisten vermisst wird, sind die überzeugten Europäer, die mit Nachdruck und auch gegen Widerstände für diese Vision eintreten. Wo sind die Politiker und die Wirtschaftsführer, die die Dinge beim Namen nennen und den Bürgern mit einer klaren Kommunikation Chancen und Konsequenzen eines geeinten Europas nicht nur verkaufen, sondern vorleben? Helmut Kohl wollte die deutsche Wiedervereinigung, und er wollte den Euro - er hat beides bekommen, mit allen guten wie schlechten Konsequenzen. Was aber will Angela Merkel - außer wiedergewählt werden natürlich? Glaubt sie nach wie vor an ein vereintes Europa? Man darf zweifeln, denn stets bleibt ein Hintertürchen offen, stets verlautet von der ehemals "alternativlosen" Kanzlerin ein "Ja, aber ...".

So auch im Falle der nun als letzte Rettung diskutierten Eurobonds. Selbstverständlich lehne die deutsche Regierung die Gemeinschaftsanleihen in der bisher angedachten Form ab, hieß es da von der Kanzlerin. Allerdings könnte sich die Lage derart verändern, dass man sie doch einführen müsse, folgte sogleich. Bitte nicht, möchte man aufschreien. Denn dann ist der letzte Trumpf auf dem Weg zu einem vereinten und nachhaltig tragfähigen Europa ausgespielt, ohne den Mitgliedsländern entsprechende Zugeständnisse abzuringen. Die Sparanstrengungen würden sofort auf ein Minimum reduziert, da nun ja wieder eine Quelle erschlossen wäre, die die Gelder sprudeln ließe. Hochverschuldete Nationen wie Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien würden sich zu deutlich verbesserten Konditionen vollsaugen. Genau wie nach der Einführung des Euro im Jahre 1999. Dabei müsste man doch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wenn Eurobonds, da sind sich die Ökonomen einig, dann bitte schön nur mit weitreichenden Souveränitätsverzichten der einzelnen Länder.

Es bedarf unbedingt einer zentral zu schaffenden Gemeinschaftsinstitution, die für die Fiskalpolitik der Euro-Zone verantwortlich zeichnet. An dieser Stelle gehen die von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gemachten Vorschläge hinsichtlich einer einzuführenden Schuldenobergrenze und einer einheitlichen Wirtschaftsregierung nicht weit genug. Es hat sich gezeigt, dass die Einführung von stabilitätspolitischen Regeln nicht reicht, sondern es weitergehender Eingriffe in die nationalen Zuständigkeiten bedarf. Es gilt in letzter Konsequenz, die bestehende Asymmetrie der Wirtschafts- und Währungsunion - einer dezentral in den einzelnen Ländern stattfindenden Wirtschafts- und Haushaltspolitik und einer zentralen Geldpolitik durch die EZB - zu beseitigen.

Wer nun aufschreit und die Demokratie in Gefahr sieht, mag sich daran erinnern, dass Europa mit dem Instrument der Verordnung bereits heute die von den jeweiligen Bürgern gewählten nationalen Parlamente umgehen kann. In § 249 des EG-Vertrages heißt es: "Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in all ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat." Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren sieht vor, dass Verordnungen von der Kommission vorgeschlagen und durch den Europäischen Rat sowie das Europäische Parlament abgesegnet werden (§289 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union/AEUV). Das heißt, bereits heute liegt die Entscheidungsgewalt bei von den nationalen Regierungen entsandten Vertretern auf europäischer Ebene. Sollten sich die europäischen Regierungschefs zu einem solchen Schritt durchringen, können Eurobonds die richtige Antwort auf die Krise sein. Sie stärken den Euro, nehmen sie doch jede Grundlage für Spekulationen gegen ein einziges Mitgliedsland, sorgen für sehr viel mehr Haushaltsdisziplin und schaffen ein einheitliches Zinsniveau in allen Ländern am langen Ende. Sollte man Eurobonds dagegen ohne all das einführen, wäre das ein neuerlicher Vertragsbruch. Schließlich heißt es in Artikel 125 des 1991 ausgehandelten Vertrages von Maastricht, dass kein Land für die Schulden eines anderen Mitglieds haftet.

Die Konsequenzen für Deutschland von "wachsweichen" Eurobonds wären spürbar. Das ifo-Institut rechnet mit einer Verteuerung der Refinanzierung um bis zu 2,3 Prozentpunkte, was einen Mehraufwand von rund 47 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten würde. Andere Schätzungen gehen von einem geringeren Anstieg aus, aber dass es teurer werden wird, steht außer Frage. Die USA, immerhin noch mit AA+ beziehungsweise weiterhin mit AAA bewertet, refinanzieren sich gegenwärtig zu einem ähnlichen Zinssatz wie die Bundesrepublik. Dass Ähnliches für ein vereintes Europa gelten wird, ist vorläufig nicht anzunehmen, auf mittlere Sicht dagegen schon. Und diese Vereinigten Staaten von Europa sind das Ziel. Nicht erst seit heute, sondern schon seit fast zwanzig Jahren. Nun vom Weg abzuweichen, wäre fatal und würde all diese Vorstellungen zunichte machen. Natürlich könnte man Griechenland aus der Währungsunion ausschließen und damit durch das abschreckende Beispiel vorübergehend für Ruhe und Disziplin sorgen. Doch was ist, wenn demnächst ein anderes Land ähnlich dasteht? Eine Wirtschafts- und Währungsunion aus einer Handvoll Ländern hat nichts mehr mit den ursprünglichen Zielen zu tun.

Wird das alles so kommen? Vermutlich nicht. Stattdessen wird weiterhin hier und da geflickt werden, mit dem Problem, wenige Wochen später an anderen Stellen Löcher stopfen zu müssen, weil das ganze Gebilde den Druck nicht aushält. Aber dem Politiker ebenso wie dem Bürger von heute ist die Taube auf dem Dach bei Weitem nicht so lieb wie der Spatz in der Hand. Schade, denn richtig wäre der Weg der Vereinigung. Doch ohne Europäer kein Europa.

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