Mitarbeiter

Qualifizierung zwischen Spezialisierung und Regulatorik

Wenn man die letzten Jahre Revue passieren lässt, stellt man fest, dass Ansätze, die wirtschaftlichen Entwicklungen zu prognostizieren, immer weniger zuverlässige Ergebnisse liefern. Prognosen von heute sind morgen bereits überholt. Ratingsysteme haben Anleger in Sicherheit gewiegt, nicht aber dazu beigetragen, Risiken in ihrer gesamten Komplexität zu identifizieren und frühzeitig Hinweise zu einem veränderten Verhalten zu geben.

Wir leben in einer Welt, deren Interdependenzen immer weniger modellhaften Prognosesystemen zugänglich sind. Es gibt zu viele Unbekannte, die das Verhalten der am Geschehen beteiligten Personen und Institutionen und damit den Lauf der Dinge beeinflussen. Einfache Kausalmodelle reichen nicht mehr aus, zukünftige Entwicklungen mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren. Es gibt in der Realität eben keine simplen Ursache-Wirkungsbeziehungen, in komplexen Systemen existieren viele indirekte Wirkungen, Beziehungsnetze und Zeitverzögerungen.

Der Gesetzgeber versucht, der Komplexität und der zunehmenden Unsicherheit durch noch intensivere und dichtere regulatorische Maßnahmen zu begegnen. In dem Maße, wie neue Sachverhalte bekannt werden, die gesetzlich noch nicht normiert und geregelt sind, wird über Gesetze, Verordnungen und Richtlinien gewissermaßen hinterher gearbeitet, verbunden mit dem Ziel, präventiv zu wirken.

Diese Entwicklung fing schon in den siebziger Jahren mit der Pleite der Herstatt-Bank an. In der Folge waren Schieflagen von Banken wegen Zinsänderungsrisiken oder die Aktivitäten eines Nick Leeson Ursache für neue gesetzliche Auflagen. Bereits vor der Finanzmarktkrise wussten die Marktteilnehmer, was Subprime-Kredite waren, und über Immobilienblasen wurde diskutiert. Und doch hat fast jeder sich auf den aktuellen Stand der Regulatorik mit der Logik der Ratings verlassen und diese zur Grundlage von Anlageentscheidungen gemacht. Und jetzt diskutieren wir Basel III als Reaktion auf die Finanzmarktkrise 2007/2008.

Einen sichtbaren Regulierungsdrang des Gesetzgebers erleben wir auch im Bereich des Verbraucherrechts. Die heute feststellbare Regelungsdichte greift allerdings in einer noch nie dagewesenen Form in Prozesse ein und verlangt Informationspflichten, die nicht nur den einzelnen Kundenberater, sondern auch den Kunden überfordern. Es werden vermeintlich schützenswerte Interessen definiert, was in der Folge dann zu einem gesetzlich verordneten Verhalten führt. Wenn der Gesetzgeber in der Kundenberatung dann noch mit persönlicher Haftung bis hin zu Berufsverbot droht, ist ein Höchstmaß an Verhaltensvorgabe und Unsicherheit erreicht.

Regulierungsdichte lähmt Gestaltungswillen

Nun ist das Bank- und Versicherungsgeschäft ohne Zweifel komplex und bedarf im Interesse der Kunden auch einer grundsätzlichen Regulierung. Diese ist unabdingbar und auch eine Grundlage für intakte wirtschaftliche Beziehungen.

Wenn Umfrageergebnisse aber zeigen, dass etwa 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung kein Interesse an Geld- oder Versicherungsdingen haben, muss zumindest die Frage erlaubt sein, ob ausschließlich verordnetes Beraterverhalten hilft oder ob der Kunde nicht motiviert werden müsste, in der Verantwortung für sich etwas für einen bewussten Umgang mit Geld zu tun. Denn in jedem komplexen System tragen alle Beteiligten immer einen Teil der Verantwortung mit, unabhängig von ihrer Position. Grundsätzlich ist zu befürchten, dass durch eine stärkere Regelungsdichte ein tiefer Eingriff in die Gestaltungsprozesse, gepaart mit dem Drang, noch mehr Informationen zur Bewältigung der Infor mationsflut bereitzustellen und zu verarbeiten, jeglichen Gestaltungswillen lähmt.

Mangelnde Vorhersagbarkeit und Unsicherheit sind Wesensmerkmale unserer Lebenswirklichkeit in einem von Komplexität geprägten Umfeld. Wo immer die Voraussetzungen dafür gegeben sind oder geschaffen werden können, ist also die Fähigkeit zur Selbstorganisation gefragt. Dies muss man akzeptieren und sich vom Glauben an vordergründige Kausalitäten und daraus resultierende Berechenbarkeit verabschieden, um die Anforderungen an Mitarbeiter von morgen beschreiben zu können.

Freiheit und Verantwortung

Am Markt tätige Unternehmen, die die Zukunft erfolgreich gestalten wollen, brauchen Mitarbeiter, die offen auf Entwicklungen der Umwelt reagieren, die Veränderungen frühzeitig wahrnehmen und auf sie reagieren können, wollen und auch dürfen. Sie benötigen die notwendige Sensibilität, schwache Signale zu erkennen, diese aufzunehmen, zu bewerten und zu verstehen und in einen betrieblichen Gestaltungsprozess zu überführen. In komplexen Situationen ist Selbstständigkeit und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gefordert.

Freiheit und Verantwortung sind vom Grundsatz her wesentlich für ein System, um seine langfristige Existenz unter sich ständig verändernden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Entzieht man eine Komponente systematisch immer mehr, geht auch die andere sukzessive verloren. Man bewegt sich dann in der Beratung der Kunden in sehr eng vorgegebenen Grenzen. Der Prozess bestimmt dann sowohl den Berater als auch den Kunden. Die Suche nach neuen Methoden beziehungsweise Verfahren der Risikobegrenzung und-steuerung engt uns am Ende selbst immer mehr ein. Wir lösen so kein Problem auf der Ebene, wo es einmal entstanden ist.

Von dem Grundverständnis einer Genossenschaft, wie Schulze-Delitzsch es einmal formuliert hat, entfernen wir uns derzeit immer mehr: "Genossenschaften sind immer das, was menschliche Einsicht, geistige Kraft und persönlicher Mut aus ihnen machen. Gerade, dass sie sich nicht in schablonenhafter Egalität entwickeln, spricht für die Tüchtigkeit ihres Prinzips. Der Mensch ist nun einmal so geartet, dass sich seine Leistungsfähigkeit nur da entwickelt, wo man ihn ganz auf die eigene Kraft verweist." Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welchen Beitrag die Bildung im engeren Sinne liefert und liefern kann, um den beschriebenen Anforderungen in geeigneter Art und Weise Rechnung zu tragen.

Die Bildung reagiert in den letzten Jahr zehnten mit einer gewissen Verzögerung auf ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen und Anforderungen. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die westliche Welt stark von der Industrialisierung geprägt. Modelle einer immer differenzierteren Arbeitsteilung beherrschten die Organisationsstrukturen der Unternehmen. Diese Arbeitsteiligkeit fand auch Eingang in Dienstleistungsbereiche und die öffentliche Verwaltung. Diesen Prozess hat das Bildungssystem nachvollzogen.

Elemente des Studium generale werden seltener

Dem Ruf nach "immer schneller" sind auch die Universitäten gefolgt. Immer speziellere Ausbildungswege führen dazu, dass Studenten in immer kleineren Wissensbereichen immer mehr wissen. Elemente eines Studium generale gibt es in der heutigen Hochschullandschaft nur noch selten. Auch der Bologna-Prozess sollte dazu beitragen, die Studiendauer deutlich zu verkürzen, die Mobilität der Studenten zu erhöhen und sie früher in die berufliche Praxis zu entlassen.

Der Bologna-Prozess führt aber auch dazu, dass von Studenten 1 800 Arbeitsstunden im Jahr erwartet werden, dies sich dann in 60 Leistungspunkten widerspiegelt und folglich der Lehrstoff für einen Leistungspunkt in 30 Stunden, sei es Präsenzzeit oder Literaturstudium, bewältigt sein muss. Hier entsteht dann der Eindruck, als würde ein vorgegebenes Zeitmaß Umfang und Tiefe der Inhalte bestimmen.

Fachliche Spezialisierung und Handlungskompetenz

Dieser Entwicklung ist auch die Ausbildung in Kreditgenossenschaften gefolgt. Fachlich definierte Wege bestimmen die Aufstiegs- und Fortbildung. Fachwissen und Methoden sind nach wie vor in sehr starkem Maße die Bildungsinhalte. Auch wenn ein zunehmendes Gewicht auf Handlungskompetenz gelegt wird, so ist diese doch in einem sehr engen fachlichen Rahmen angelegt. Die Entwicklung der fachlichen Spezialisierung ist grundsätzlich nicht in Frage zu stellen. Kritisch ist allerdings die Einseitigkeit dieser Entwicklung zu beurteilen. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Komplexitätsanforderungen ist zu befürchten, dass junge Menschen mit einer ausschließlich fachlichen Spezialisierung tendenziell immer weniger in der Lage sein werden, komplexe Situationen ganzheitlich zu erfassen, darauf zu reagieren und gestalterisch tätig zu werden.

Es müsste ein deutlich größeres Schwergewicht auf eine umfassende und ganzheitliche Bildung gelegt werden. Dies müsste in der Schule beginnen und sich im Bereich der Hochschulausbildung und auch in der betrieblichen Ausbildung fortsetzen. Die Gründung von Schülergenossenschaften in vielen norddeutschen Schulen kann hierbei als ein methodischer Beitrag gesehen werden, junge Menschen frühzeitig in komplexe Entscheidungssituationen zu versetzen und ihnen verantwortungsbewusstes Handeln in demokratischen Strukturen zu vermitteln.

Mitarbeiter müssen befähigt sein, auf wechselnde Situationen reagieren zu können. Der Glaube, heute einen Beruf zu erlernen, reiche für die nächsten 40 Jahre Berufstätigkeit aus, wird in der Zukunft nicht haltbar sein. Neurobiologische Studien belegen, dass der Mensch auch im höheren Alter grundsätzlich eine Lernfähigkeit wie ein Schüler besitzt. Hier sind Konzepte gefragt, wie diese kultiviert werden kann. In diesem Zusammenhang geht es auch darum, eine Begeisterung für das Lernen zu erhalten oder zu entwickeln, damit Veränderungen akzeptiert und Zukunft mit gestaltet werden kann. Permanentes Lernen ist eine Voraussetzung für Veränderung.

Die Steuerung komplexer Systeme braucht Kreativität und Intuition

Bildung und Ausbildung darf sich nicht nur auf Faktenwissen und rational nachvollziehbare Elemente konzentrieren. Wie eingangs ausgeführt, ist die Zeit mathematisch-statistischer Erklärungsmodelle zwar nicht vorbei, doch der Aussagegehalt derartiger Modelle muss kritisch hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Gefühl und der Intuition eine hohe Bedeutung zu. Wir brauchen Kreativität und Intuition, um komplexe Systeme in der Zukunft steuern zu können.

Die Ausbildung sollte sich neben der fachlichen und technischen Qualifizierung verstärkt Konzepten zum ganzheitlichen und vernetzten Denken, Systemkunde sowie der Förderung beziehungsweise Stärkung ganzheitlicher Wahrnehmung und Reflexion als Voraussetzungen für Intuition und Kreativität zuwenden. Ganz nebenbei sind das auch Bedingungen für den langfristigen Erhalt der Gesundheit. Nur wenn Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, verantwortungsbewusst zu handeln, selbstständig und selbstverantwortlich entscheiden zu können, was wichtig und weniger wichtig ist, wenn Mitarbeiter in der Lage sind, auch Gefühle und intuitive Elemente in Entscheidungssituationen zu integrieren, werden wir uns erfolgreich weiterentwickeln. Wir brauchen Menschen und Mitarbeiter, die bewusst leben und sich in die Gestaltung ihrer beruflichen Umgebung einbringen möchten. Dafür brauchen sie natürlich in den Unternehmen entsprechende Rahmenbedingungen und Förderung.

Um einer betrieblichen Aus- und Weiterbildung in diesem Sinne zum Erfolg zu ver helfen, sind adäquate Führungsumgebungen unabdingbar. Führungssysteme der Vergangenheit und damit auch Informationssysteme sind stark von einer hierarchischen und arbeitsteiligen Ordnung geprägt. Informationen werden in dem Maße weitergereicht, wie sie für eine Aufgabenbewältigung augenscheinlich unabdingbar sind. Informationen sind in diesem Zusammenhang auch Machtinstrumente und dokumentieren unterschiedliche Hierarchien. Verbunden hiermit ist häufig der Glaube, dass allein die Unternehmensspitze weiß, was gut für das Unternehmen und die Mitarbeiter ist. Dieser zugegebenermaßen etwas pointiert dargestellte Führungsansatz ist allerdings auf Dauer kein adäquater Rahmen.

Die Komplexität der Umwelt erfordert eine feine Antenne für Veränderungen und daraus resultierende Anpassungsnotwendigkeiten. Dies verlangt auf allen Unternehmensebenen Aufmerksamkeit, Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Dies gilt es zu fördern und nicht durch eine starre hierarchieorientierte Führung zu behindern. Weiterhin muss man das Informationsverhalten der jüngeren Generation akzeptieren. Die heutige Generation der Auszubildenden wächst im Web-2.0-Zeitalter auf. Der Umgang mit Informationen, der Austausch, die offene Kommunikation und die Erfahrung, wenn man gibt, bekommt man häufig mehr zurück, prägt das Verhalten. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund demografischer Entwicklungen müssen Unternehmen so technisch sozialisierte junge Menschen in den betrieblichen Alltag einbinden. Man muss den Gepflogenheiten dieser jungen Menschen kommunikativ und auch in der Führung Rechnung tragen. Nur so ist eine Identifikation mit den Unternehmenszielen, eine Nutzung der zum Teil hervorragenden Potenziale und eine langfristige Bindung möglich.

Für eine an den genossenschaftlichen Prinzipien orientierte Bildung

Die Bildung muss in der Zukunft neben einer reinen Wissensentwicklung stärker in Richtung Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung wachsen, damit Menschen den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht werden können. Dabei müssen wir insbesondere unsere Fähigkeiten zum ganzheitlichen beziehungsweise vernetzten Denken und Handeln weiter ausbauen, um offen zu sein für Veränderungen und nachhaltige Lösungen zur Zukunftsgestaltung entwickeln zu können.

Gerade weil der Finanzsektor einer zunehmenden Regulatorik unterliegt, müssen wir verstärkt darauf achten, nicht nur das Formalwissen zu vermitteln, sondern den Menschen beziehungsweise die Persönlichkeit zu stärken, bei allem äußeren Druck und ständiger Veränderung motiviert und gelassen zu bleiben und das Gefühl zu haben, die anstehenden Aufgaben selbstbestimmt und selbstverantwortlich lösen zu können. Der regulatorische Ansatz, über tiefe Eingriffe in Verfahrensprozesse präventiv zu wirken, steht dem entgegen. Mitarbeiter werden in mehr oder weniger engen Arbeitsfeldern konditioniert, sie sollen den Vorgaben entsprechend funktionieren. Verantwortungsbewusstsein und Gestaltungswille sind kaum gefragt. Weniger Verfahrensvorschriften, mehr grundsätzlicher Ordnungsrahmen, das entspräche doch eher den genossenschaftlichen Prinzipien.

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